Das permanente Provisorium
Bangladesh will das Flüchtlingslager der Rohingya-Minderheit nur vorübergehend betreiben. Das hat fatale Folgen.

Den schwarz-roten Rucksäcken sind die zwölf Monate anzusehen, die sie nicht nur als Schulranzen der 35 Kinder in der luftigen Bambushütte gedient haben. Vor dem Eingang verwandelt die brennende Sonne den regennassen Matsch des Rohingya-Flüchtlingslagers in Kutupalong in ein schwüles Dampfbad. Die von der Kinderhilfsorganisation Save the Children spendierten schwarz-roten Rücksäcke dienen heute als Schreibpult. Die Kinder sitzen am Boden, auf einer Seite des Klassenzimmers die Mädchen, auf der anderen die Jungen. Sie sprechen ihrem 40-jährigen Lehrer Saw Dul Amin nach. «Bus», rufen sie auf Englisch, als er mit einem Stock auf ein entsprechendes Bild zeigt. «Die Kinder sollen neben der Rohingya-Sprache auch Englisch und burmesisch lernen», sagt der Lehrer, «damit sie sich bei einer Rückkehr nach Myanmar verständigen können.»
In drei Schichten büffeln jeweils 35 Kinder. Begeistert rufen sie die Wörter für die Gegenstände, die Lehrer Saw mit dem Zeigestock anzeigt. Die Skizzen hängen auf einer Tafel. Darunter hängt ein Foto, das eine lichterloh brennende Hütte zeigt. Es ist eine Aufnahme aus einem der zahllosen Dörfer im Rakhine-Staat an der Westküste Myanmars – dort, wo vor einem Jahr rund 700'000 Rohingya durch Myanmars Militärs vertrieben wurden.
Die «Kinderspielgegend»
«Wir unterhalten rund 100 Einrichtungen, in denen rund 12'000 Kinder im Alter von vier bis 14 Jahren unterrichtet werden», sagt Daphnee Cook von Save the Children. Laut Angaben der UNO werden im Flüchtlingslager bislang 143'000 Kinder in insgesamt knapp 1200 Zentren betreut. Seit über einem Jahr leben 370'000 Rohingya-Kinder unter 18 Jahren in Kutupalong, dem grössten Flüchtlingslager der Welt. Rund 6000 davon sind unbegleitete Kinder, sagt die Hilfsorganisation Save the Children.
Vor dem Eingang der grossen, farbig gestrichenen Bambushalle lungern Kinder herum. Sie würden gerne dem Unterricht beiwohnen – doch der Platz reicht nicht dafür aus. «Vielleicht kommen sie gerne zum Unterricht, weil wir keine Prüfungen haben», sinniert Lehrer Saw. Die Bambushalle sieht aus wie ein Klassenzimmer. Der Unterricht klingt wie normaler Schulbetrieb. Doch Hilfsorganisationen dürfen weder von Schule reden noch den Begriff Lernzentrum verwenden. Die Regierung von Bangladesh besteht auf der Bezeichnung «Kinderspielgegend». Denn die Regierung Bangladesh betrachtet Kutupalong als provisorisches Lager – und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies verändern wird.
Doch die Flüchtlinge verhalten sich nicht so, wie sich das die Regierung von Bangladesh vorstellt. Hilfsorganisationen erwarten, dass im Flüchtlingslager in diesem Jahr 48'000 Säuglinge geboren werden – und die Zahl der Lagerbewohner unter 18 Jahren auf 400'000 klettern wird. «Wir brauchen unbedingt Schulen», sagt der 53-jährige Lehrer Abdul Rahim, der vor einem Jahr mit seiner Familie nach viertägigem Gewaltmarsch an der Grenze zu Bangladesh ankam. «Wer nie lernt, pünktlich aufzustehen und keine Regelmässigkeit im Leben kennt, wird verwahrlosen.»
Die verlorene Generation
Der Familienvater und Vize-Vorsitzender der Arakan Rohingya Society for Peace and Human Rights (ARSPH) weiss, wovon er spricht. Vor der Vertreibung im vergangenen Jahr gab es im Rakhine-Staat auf Geheiss von Myanmars Regierung bereits fünf Jahre lang keinen Schulunterricht mehr für die meisten Kinder der islamischen Minderheit der Rohingya. «Es droht die Gefahr», warnte die UNO Ende August, «dass eine komplette Generation verloren geht.» Oder in der kriminellen Unterwelt verschwindet. Der Grenzort Tecnaf, gerade mal zwei Stunden Fahrt mit einem Mopedtaxi von Cox's Bazar entfernt, gilt seit Jahren als Transitstation des blühenden Drogenschmuggels. Das Amphetamin «Yaba» – was so viel wie «macht dumm» bedeutet – überschwemmt von seinen Produktionszentren in Myanmar nahe der Grenze zu Thailand nicht nur Ost- und Südostasien. Die Drogenbarone versorgen damit auch florierenden Absatzmärkte in Indien, Nepal und Bangladesh.
Da Bangladeschs Hauptstadt Dhaka nicht nur regulären Schulunterricht unterbindet, sondern Flüchtlingen auch das Recht zum Arbeiten verweigert, suchen Erwachsene und von Langeweile geplagte Jugendliche händeringend nach Verdienstmöglichkeiten im Flüchtlingslager. «Als Yaba-Kurier kann ich wenigstens etwas Geld verdienen», sagt ein 16-jähriger Bauernsohn, dessen modische Sportschuhe und schicke Jeans ihn deutlich von der Masse seiner Altersgenossen abhebt.
Die Staatenlosen
Bangladeschs Regierung beharrt dennoch aus politischen Erwägungen auf der provisorischen Zwischenlösung für die Tausenden Flüchtlinge aus Myanmar. Das Nachbarland soll die Vertriebenen wieder aufnehmen, weil Dhaka nicht die Probleme übernehmen will. Doch bislang kehrte kein einziger der Flüchtlinge zurück, obwohl es eine Rücknahmevereinbarung zwischen den Regierungen der beiden Staaten gibt. «Wir wollen nicht zurück, solange es keine Garantien für uns gibt», sagt ARSPH-Vertreter Abdul Rahim.
In ihrer Heimat werden der muslimischen Minderheit Bürgerrechte verwehrt. In Bangladesh – einem der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt – gelten die Rohingya als Staatenlose. «Die neu angekommenen Flüchtlinge werden nie zurückkehren», sagt der 40-jährige Mohammed Yunus, der seit vier Jahrzehnten in dem von Dhaka verordneten Provisorium lebt, «ich bin sicher, es wird ihnen so ergehen wie uns.»
In Myanmar geboren, lebt er seit 1992 in einem Lager für sogenannte «registrierte Flüchtlinge» – Rohingyas, die bereits vor Jahren nach Bangladesh kamen. Yunus absolvierte ein Jura-Studium, darf aber nicht als Anwalt arbeiten. Jetzt sitzt er auf dem Bazar von Kutupalong und verkauft Medikamente. «Ich werde immer staatenlos bleiben», sagt Yunus, «aber meine Frau hat einen Pass von Bangladesh. Deshalb können meine Kinder vielleicht das Flüchtlingslager einmal verlassen und irgendwo in Bangladesh leben, wenn sie erwachsen sind.»
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