Das Museum of Modern Art wird weiblicher
Das Moma in New York integriert die Kunst von Minderheiten und Frauen und weist so den Weg in eine gerechtere Moderne.

Wir leben in einer Schwellenzeit, die alte Ordnung bricht weg. «Mögest du in interessanten Zeiten leben», hiess der Titel der soeben zu Ende gegangenen Kunstbiennale in Venedig – in Anlehnung an einen angeblich chinesischen Fluch. Bestimmt bringen Zeiten des Umbruchs viel Leid und Verunsicherung mit sich. Sie bieten aber die Chance, mit der alten Ordnung auch ihre Ungerechtigkeiten aus dem Fenster zu kippen.
Lange genug haben sich die Museen Moderner Kunst dagegen gesträubt, die Werke von Frauen und Minderheiten besser in ihre Sammlungen zu integrieren. Was gute Kunst ist, wurde von oben verordnet – und in den wichtigen Kuratorensesseln sassen kluge Männer mit blassem Teint.
Paradox, dass gerade eine Rückkehr des weissen Herrschaftsdenkens in den USA, wie es in der Alt-Right-Bewegung oder den Tweets und Handlungen des aktuellen Präsidenten augenscheinlich wird, nun den Forderungen nach Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten zum Durchbruch verhilft. Als demokratische Gegensteuerung sozusagen: Willkommen im neuen Moma.
Mehr Platz und neu strukturiert
Die milde Frühwintersonne wirft abstrakte Muster auf die New Yorker Strassenschlucht, und der Eingang zur Kommandozentrale der Moderne präsentiert sich so unscheinbar wie eh und je. Nachdem das Haus bereits vor 15 Jahren dank des Umbaus des japanischen Meisterarchitekten Yoshio Taniguchi seine Ausstellungsfläche, die ja mitten in das Häusermeer von Midtown New York eingepfercht ist, verdoppelt hat, fügt der neueste Um- und Ausbau dem noch ein weiteres Drittel hinzu.
Das Architekturbüro Diller und Scofidio (in der Schweiz erinnert man sich an ihre Expo-Wolke in Yverdon) hat nicht nur die Ausstellungsfläche vergrössert, sondern auch die gesamte Struktur des von drei Millionen Menschen jährlich besuchten Museums gestrafft und vereinheitlicht. Das benachbarte American Folk Art Museum wurde dem platzhungrigen Moma ganz geopfert, einige Ausstellungsfluchten erstrecken sich in das fast fertige schwarze Apartmenthaus daneben, für das Jean Nouvel verantwortlich zeichnet.

Auch wenn die Geschichte der neusten Erweiterung des Museums, die gut eine halbe Milliarde Dollar gekostet hat, nach jenem monetären Grössenwahn klingt, der die moderne Kunst zurzeit auszeichnet: Von Protz und Goldglitter sieht man hier nach dem Umbau rein gar nichts. Das neue Moma wirkt volksnah und bescheiden. Weder die Kunst noch die Architektur zielen auf eine Überwältigung des Publikums.
Es ist eindeutig: In den seit Ende Oktober zugänglichen neuen Räumen an der 53. Strasse wird nicht die teure «Siegerkunst» gefeiert, sondern eine demokratische Gleichheit vor den Errungenschaften des kreativen Intellekts – der als die treibende Kraft der zeitgenössischen Kunst identifiziert und präsentiert wird.
Wie in einem Quartierzentrum
Der erste Blick nach dem Eingang wandert nach oben, zum verglasten ersten Stock, wo ein Creativity Lab die kollektive Vorstellungskraft ins Zentrum des Geschehens stellt. Es ist das sogenannte People's Studio; die Besucher werden da gebeten, selbst Farbe, Kunststoff oder Webfaden in die Hand zu nehmen und es den Künstlern nachzumachen. Hier wird diskutiert, vorgelesen, experimentiert. Man fühlt sich an ein Quartierzentrum erinnert – oder an eine Installation des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn, wie sie erst kürzlich auf dem Vorplatz des Bahnhofs Biel stattgefunden hat.
Der Blick von diesem Volksstudio hinunter in die substanziell vergrösserte Lobby zeigt keine Palasthalle – mit einer solchen schmückten sich die Museen bisher gern – sondern einen platzsparend unterteilten Warteraum, einem Flughafen ähnlich. Müde Besucher verschnaufen hier auf schmalen Stühlen, bevor sie sich wieder in den Überlebenskampf auf den New Yorker Strassen stürzen.

Und die Kunst? Wer einen politisch korrekten Einheitsbrei in der Sammlungspräsentation fürchtet, sieht sich sofort eines Besseren belehrt. Hier haben brillante Konservatoren mit wachem Blick und einem dramatischen Sinn für Beschränkung neue Schneisen durch die weltbeste Sammlung moderner Kunst gebahnt. Die Säle sind klein, die Titel der einzelnen Präsentation prägnant kurz, und doch machen die altbekannten Exponate fantastische Metamorphosen durch, bloss dadurch, dass sie unerwartet kombiniert werden.
Dabei geht diese Öffnung weit über einfache Massnahmen hinaus. So hat man neben die Werke von Jackson Pollock die seiner Gefährtin Lee Krasner gehängt, deren Kunst aber nicht an die ihres Gatten herankommt. Die Veränderung geht so weit, dass es im neuen Moma keine Säle mehr gibt, die dem abstrakten Expressionismus gewidmet sind, sondern nur noch solche, die ganz anders heissen, etwa «Out of War».
Sammlung mit Stücken aus dem Depot angereichert
Im Saal «In and Around Harlem» entdeckt man Kunst, die zur gleichen Zeit wie der abstrakte Expressionismus (der ja im Ruch steht, von der CIA als kulturelle Waffe gegen die Sowjetunion missbraucht worden zu sein) in New York produziert wurde. Überall wurde zudem aus den Depots angereichert: Mark Rothkos spirituelle Farbflächen sind seltener geworden, dafür begegnen sie etwa einem Werk des Inders Vasudeo S. Gaitonde, der unter dem Einfluss des Zen-Buddhismus weisse Formen in goldenen Grund kratzte.
Wenn man neben Van Gogh jäh die Töpfereien von George Ohr vorfindet, dem «verrückten Töpfer von Biloxi», der als heimlicher Vorläufer des abstrakten Expressionismus gilt, kommt man zugegebenermassen schon etwas aus dem Konzept. Was soll das? Und dann merkt man, wie gut es der «Sternennacht» tut, für einmal nicht das hochverehrte Original zu einer kitschigen Postkarte zu spielen, sondern ein Kunstwerk zu sein, das ernst genommen wird, das nochmals nach seiner Bedeutung befragt werden kann.
Ordnung ohne kunsthistorische Epochenbegriffe
Die Themen der Säle umfassen Dinge wie «Paris 1920» oder «Von Suppendosen bis zu Fliegenden Untertassen». Abteilungen für Dada, Pop Art oder Impressionismus findet man nicht. Der Versuch, die kunsthistorischen Begriffe in den Saaltexten komplett zu umschiffen, könnte als eine kleine Lächerlichkeit angeprangert werden.
Sogenannte Wiedergutmachungskunst gibt es zwar (eine Art kunsthistorische Frauen- und Minderheitenquote). Aber ihre Präsenz leuchtet einem in der Regel ein, wie etwa die Gegenwart der brasilianischen Künstlerin Tarsila do Amaral zwischen Léger, Picasso und Brancusi im Raum zur Pariser Avantgarde.

Es gibt Säle, die dem Publikum dann doch geben, was es möchte (der Eintritt kostet schliesslich 25 Dollar): Henri Matisse und Monets «Seerosen» haben eigene Kabinette, Constantin Brancusis übersinnliche Skulpturharmonien sind passend neben einem Ausblick auf die Stadt untergebracht.
Und dann gibt es wieder Säle, in denen die Nerven der Besucher mit offensichtlichen Provokationen strapaziert werden, wenn etwa ein Gemälde des afroamerikanischen Künstlers Faith Ringgold von 1967, das einen Rassenaufstand darstellt, mit Picassos Meisterwerk «Les Demoiselles d'Avignon» (1907) zusammengehängt wird – mit sichtbarem Nachteil für Ringgold.
Anders verhält es sich mit Frida Kahlo, deren «Selbstbildnis mit kurz geschnittenem Haar» im sparsam bestückten Saal zwischen Meret Oppenheims Pelztasse und René Magrittes Bildrätseln (psssst! Surrealismus, auch wenn es nicht so heisst) plötzlich so viel mehr Sinn ergibt als auf einem bestickten Kissen.
Ein Vorbild auch für Zürich?
Spätestens seit Mitte der Fünfzigerjahre ist das Moma die geschmacksbildende Institution unserer Weltordnung schlechthin. Nicht zuletzt, weil der hier bisher zelebrierte kunsthistorische «Königsweg» die fortschreitende Individualisierung der Kunst als eine naturgegebene Weiterentwicklung postulierte, was so schön mit der politischen und wirtschaftlichen Grundstimmung des Liberalismus zusammenfiel.
Wird der gegenwärtige Versuch des Moma, die Museen in eine andere, demokratische, inklusive, solidarische Richtung zu führen, von Erfolg gekrönt? Werden weitere Museen, etwa das gerade zum Sprung auf die andere Seite des Heimplatzes ansetzende Kunsthaus Zürich, mit ihrer Sammlungshängung und ihrer Einstellung zur Kunstgeschichte folgen?
In David Chipperfields neuem Bau in Zürich hätte es für Experimente zumindest Platz genug. Freilich, dem Beispiel des Moma, das wird in jedem Saal in New York klar, können nur Häuser mit aussergewöhnlich starken Sammlungen folgen. Da muss jedes Exponat sitzen und passen, nur dann kann die Neuhängung überzeugen.
Und so kann man sich plötzlich in einen Raum wie «Responding to War» verirren, zwischen dramatischen Leinwänden von Francis Bacon, Max Beckmann und José Clemente Orozco stehen und nicht wissen: Ist man nun gerührt wegen des hier so kraftvoll dargestellten Leids oder aus lauter Glück angesichts dieser fantastischen Kunst?
Museum of Modern Art, 11 West 53. Street, jeden Tag von 10 bis 17.30 Uhr offen
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