Das Leben des Pierre D.
Künstlerin Sophie Calle findet in Paris ein Adressbuch. Sie ruft die Kontakte an und lässt sich über den Besitzer erzählen. Es entsteht das Bild eines Menschen durch die Augen seiner Freunde.

Im Juni 1983 fand die junge Künstlerin Sophie Calle in Paris ein Adressbuch. Sie kopierte es und schickte es kommentarlos an seinen Besitzer Pierre D. zurück. Dann rief sie nach und nach die im Adressbuch enthaltenen Nummern an und bat die Menschen, die ans Telefon gingen, sich mit ihr zu treffen, damit sie selbst sich ein Bild des unbekannten Besitzers machen könne. Die aus den Anrufen resultierenden Treffen goss sie in pointierte Kolumnen, die den August über in der Tageszeitung «Libération» abgedruckt wurden. Nun gibt sie der Suhrkamp-Verlag erstmals auf Deutsch heraus.
Sophie Calle hatte Glück mit ihrem Fund. Pierre D. war anscheinend eine so liebenswerte wie interessante Person. Die Menschen, die bereit waren, über ihn zu sprechen, zeichnen das Porträt eines freundlich-exzentrischen Vogels, der ziemlich ziellos durch sein Leben und den Kulturbetrieb von Paris driftete: Pierre D. lebt zum Zeitpunkt des Experiments alleine in einer abenteuerlich vollgestellten Wohnung und schreibt immer wieder neue Drehbücher mit Titeln wie «Die Geschichte vom getriebenen Fleisch». Er drückt sich umständlich und gewählt aus, scheint äusserst gutmütig zu sein, liebt die Filme von Lubitsch und Jerry Lewis, wollte in seinen jungen Jahren Ägyptologe werden, erinnert die einen an «eine Figur aus einem Kinderbuch», andere an einen «shakespearehaften Charakter». Er gleiche einer «Wolke in Hosen», sagt etwa eine Frau.
Schuld- und Schamgefühle
Spätestens bei diesem Satz muss jeder, der noch einen Rest Empathie im Leib hat, sich fragen, ob er solche Aussagen über sich selbst gerne in einer der grössten Tageszeitungen Europas lesen möchte. Die Frage wird umso dringlicher, als nach rund drei Wochen ein enger Freund erzählt, Pierre D. neige dazu, romanhafte Geschichten zu erzählen, «in denen er immer die Rolle des vom Pech verfolgten Opfers spielt». Es drängt sich zudem der Verdacht auf, dass Pierre D. zuweilen zu Paranoia und Manien neigt. Hätte Calle nicht hier ihr Projekt abbrechen müssen? Sie schreibt mehrfach selbst, Schuld- oder Schamgefühle würden sie umtreiben, wischt das aber jedes Mal sofort wieder weg: Das Experiment sei einfach zu spannend.
Noch viel mehr Glück hatte Calle mit ihrem Experiment insofern, als Pierre D., kurz bevor die Textserie begann, nichts ahnend nach Nordnorwegen aufgebrochen war, wo er mehrere Wochen lang einen Workshop gab. Da das Ganze vor der Erfindung des Internets stattfand, erfuhr er erst nach seiner Rückkehr von den 29 voyeuristischen Texten über sich. Er war empört und veröffentlichte einen offenen Brief in «Libération», in dem er schrieb, wie verletzt er sei. Calle habe zwar weder seine genaue Adresse noch seinen Nachnamen preisgegeben, aber jeder, der ihn auch nur entfernt kenne, wisse, dass es sich um ihn handle. Aus Rache hatte er sich ein Nacktbild von Calle besorgt und die Zeitung gezwungen, dieses Bild nun im Gegenzug zu seinem Text zu veröffentlichen.
Schon diese unbeholfene Art der Rache zeigt, wie ungleich die Machtverhältnisse waren: Calle spielte in ihrem Werk von Anfang an mit Grenzüberschreitungen, Indiskretionen und der Frage nach den Grenzen des Privaten. Sie hatte eine Weile als Stripperin gearbeitet und Bilder davon veröffentlicht. Was macht da ein Nacktbild von ihr? Im Grunde vervollständigt es nur ihr Werk, in dem es immer wieder um die Grenze von Privatheit geht. Pierre D. aber fühlte sich missbraucht. Man kann es ihm auch 35 Jahre später kaum verdenken, im Gegenteil, eigentlich kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wie eine seriöse Tageszeitung seinerzeit bei solch einem Projekt mitmachen konnte.
Natürlich ist das Ganze ästhetisch apart. Alles beruhte auf einem Zufallsfund. Und es war anfangs auch reiner Zufall, bei wem die Reise in Richtung Pierre D. beginnen sollte. Diese Kontingenz paarte Calle in ihren Texten mit pedantischer Akribie. Ähnlich einem Privatdetektiv traf sie täglich eine Person, vermerkte Name und Uhrzeit des Treffens und gab dem Ganzen so den Anstrich von behördlich-protokollarischer Strenge. Wer mag, kann das kurzschliessen mit ihrer Konzeptkunst, bei der am Anfang stets eine strukturelle Spielregel stand. Die kommentarlos dazu gezeigten Fotos werfen zudem immer wieder die Frage auf, was eigentlich auf solchen Zeitungsbildern zu sehen ist.
Zeigt das erste Foto wirklich das gefundene Adressbuch? Hat Calle es tatsächlich so gefunden? Pittoresk neben einem Bistrotischchen? Und die Frau auf unserem zweiten Bild? Ist das nicht Sophie Calle? Geradezu symbolhaft ausgestellt und zugleich verhüllt? Was ist hier dokumentarisch, was Fiktion?
Pierre D. hiess Pierre Baudry
Wie auch immer, im Zentrum dieses Werks steht ein Mensch, der nie gefragt wurde, was er vom Experiment rund um seine Identität hält. Pierre D., der in Wahrheit Pierre Baudry hiess, verfügte, dass das Werk zu seinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt oder gedruckt werden darf. Er arbeitete als Dokumentarfilmer und verstarb 2005.
In all den Jahren dazwischen gab es nur eine fiktionale Spur des Werks: Paul Auster setzte Sophie Calle ein Denkmal, indem er in «Leviathan» eine Künstlerin namens Maria Turner auftreten lässt, die lauter Werke konzipiert hat, in denen sie über die Fragen nach Privatheit und Diskretion, nach Identität und Öffentlichkeit sinniert. Eines der darin beschriebenen Werke heisst «Das Adressbuch».
Mittlerweile darf «Das Adressbuch» gezeigt werden, und so liegt es nun in der eleganten Übersetzung von Sabine Erbrich vor. Sophie Calle scheint das Ganze bis heute nicht zu bereuen. «Das einzige Werk, wo ich zu weit gegangen bin, ist ‹Das Adressbuch›», sagte sie 2009 in einem Interview. «Aber ich würde es wieder machen – der Reiz ist einfach sehr viel grösser als das Schuldgefühl.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch