Das lange Sterben des Peter Kinloch
Mit 28 Jahren hat der Schotte seinen Lebenstraum wahr gemacht: Er steht auf dem Gipfel des Mount Everest. Sein Abstieg wird zum Leidensweg.

Zurück bleiben Fotos vom höchsten Punkt der Erde. Bei sonnigem Wetter zückt Peter Kinloch am 25. Mai 2010 in 8848 Metern Höhe über dem Meeresspiegel seine Kamera und fotografiert die Welt unter ihm. Der Schotte ist ein erfahrener Bergsteiger, der nun die höchsten Berge von fünf Kontinenten bezwungen hat. Er steht auf dem Zenit seiner Laufbahn. Wer hätte schon gedacht, dass sein Abstieg, den die britische Zeitung «Daily Mail» nun minutiös nachgezeichnet hat, ein menschliches Drama werden würde?
Der Abstieg der zehnköpfige Expedition beginnt laut dem Bericht gegen 13:30 Uhr. Hinab über die tückischen Stellen des eisigen Berges – und im Wissen über die eigene Erschöpfung. Schon der Aufstieg vom letzten Camp Nr. 3 war anstrengender gewesen als erwartet, zumal die Expedition die Route von Tibet auf der chinesischen Seite gewählt hatte, die weniger frequentiert ist. Und schwieriger.
Stolpern und Rutschen auf Schnee und Eis
Es ist ein Ringen gegen die lebensfeindlichen Verhältnisse und die eigene Erschöpfung. Dass Kinloch Probleme bekommen könnte, zeigt sich laut «Daily Mail» zum ersten Mal rund 180 Meter unterhalb des Gipfels. Er stolpert. Auf den ersten folgen weitere Ausrutscher – gelegentliche Anzeichen für eine körperliche Überforderung, die auch seine Begleiter mit Unbehagen registrierten.
Dass der Schotte ernsthaft in Gefahr schwebt, wird schliesslich am «Second Step» offenkundig – einer Stelle auf etwa 8577 Metern Höhe, vor der Everest-Besteiger grössten Respekt haben. Um die Überquerung zu erleichtern, hatte eine chinesische Expedition dort im Jahr 1972 eine Leiter aus Aluminium im Fels verankert. Obwohl Kinloch solche Hilfsmittel in einem Training mühelos gemeistert hatte, wendet er sich nun an den Gruppenleiter David O'Brien und fragt ihn, ob er ihm zeige, wie er an der Leiter hinuntersteigen könne – er habe Schwierigkeiten zu sehen. Eine Untertreibung, wie er Minuten später eingestehen muss.
Mit einem Mal ist alles schwarz
Kinloch ist erblindet. Doch es handelt sich wohl nicht um eine «Schnee-Blindheit», die bei Expeditionen in grossen Höhen eintreten kann. Denn er zeigt sich von dem Problem nicht überrascht, wie Expeditionsleiter David laut der Zeitung später mitteilt: Das sei bereits früher vorgekommen, erzählt Kinloch in aller Ruhe, wenn auch nicht in den Bergen.
Was tun? Um dem Bergsteiger hinabzuhelfen, werden laut «Daily Mail» drei Sherpas aus Camp 3 nach oben geschickt. Als erster trifft ein Mann mit dem Namen Jangbu ein. Er und O'Brien helfen Kinloch in den folgenden Stunden bis zum nächsten Punkt – dem Mushroom Rock auf 8549 Metern Höhe, noch immer in der so genannten «Todeszone». In dieser Region bemerkt Kinloch, der offenbar bei klarem Verstand ist, Anzeichen von Erfrierungen an zwei Fingern – und bittet seinen Expeditionsleiter, ihm zwei grosse Fäustlinge aus seinem Rucksack zu geben.
Stundenlanges Ringen um ein Leben
Die beiden weiteren Sherpas treffen ein, und in den nächsten acht Stunden versuchen sie, ihren Kameraden hinabzubringen. Medikamente gegen Höhenkrankheit helfen ebensowenig wie die Versorgung mit mehr Sauerstoff: Kinlochs Zustand verschlechtert sich. Er kann nicht mehr gehen, liegt im Schnee, wirft seine Wasserflasche weg und lehnt schliesslich auch medizinische Hilfe ab.
Je länger die Rettungsaktion dauert, desto gefährlicher wird die Lage auch für die Helfer. Ihnen droht der Sauerstoff auszugehen; Wasser und Nahrung werden knapp. Nach 12 Stunden im Ringen um Kinlochs Leben sind sie von den Mühen und der Kälte ausgelaugt – und funken hinab ins Camp 3, wo der Leiter der Expedition, Dan Mazur, der Teamarzt und weiterer Sherpa das Drama hilflos verfolgen.
Ein Todesopfer oder vielleicht fünf?
Angesichts der späten Tageszeit und der widrigen Bedingungen muss Mazur abwägen – zwischen der Chance, ein Menschenleben zu retten, und der Gefahr, die vier Helfer in äusserste Lebensgefahr zu bringen. Um 2:30 Uhr befiehlt er die Rettungsmannschaft hinab; eine traumatisierende Entscheidung für jeden Expeditionsleiter. Und besonders für Mazur, der im Jahr 2006 berühmt wurde, weil er einen Everest-Bergsteiger aus Australien gerettet hatte: Lincoln Hall war auf einer Expedition krank geworden und von seiner Seilschaft als hoffnungsloser Fall zurückgelassen worden. Mazur entschied sich gegen einen Gipfelerfolg und für die Rettung.
Kinlochs Leichnam liegt noch immer dort oben. Seine Verlobte hofft, dass er eines Tages hinunter gebracht wird. Bis dahin bleiben als einziger Trost einige Fotografien – und das Wissen, das er zuvor ganz oben auf dem Gipfel war. «Wir schöpfen Trost daraus, dass er eins seiner Lebensziele erreicht hat», sagte Kinlochs Vater laut der «Daily Mail», «wie viele Menschen können schon sagen, dass sie auf dem Gipfel der Welt waren?»
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