Das grosse Feilschen um die Macht
Noch ist der Krieg in Libyen nicht vorbei, doch der Machtpoker um die politische Zukunft hat längst begonnen. Die radikalen Kräfte haben dabei einen entscheidenden Vorsprung.
Libyen soll nach dem Willen des Übergangsrates ein gemässigter islamischer Staat werden. Ziel sei es, einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen, in dem die islamische Rechtsprechung Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung sei. Die neue Regierung werde keine extremistische Ideologie von links oder rechts akzeptieren, betonte Übergangsrats-Chef Mustafa Abdul Jalil in seiner ersten Rede in Tripolis.
Noch sind die säkularen und islamistischen Kräfte einer Meinung, wenn es um die Zukunft Libyens geht. «Es ist die Revolution des Volkes. Auch die Säkularisten sind unsere Brüder», zitiert die «New York Times» den einflussreichen islamischen Geistlichen Ali Sallabi. «Wenn die Libyer die Säkularisten wählen, habe ich kein Problem damit. Wir glauben an die Demokratie und an einen friedlichen Machtübergang», fügte er hinzu. Auch der Militärkommandant von Tripolis, Abdel Hakim Belhaj, spricht trotz seiner islamistischen Vergangenheit vom Wunsch eines demokratischen Libyens. Nach vier Jahrzehnten der Unterdrückung wünschen sich alle einen freien, demokratischen Staat, ist der offizielle Tenor unter allen einflussreichen Gruppierungen.
Usama Endar aus Tripolis, der die Rebellen finanziell unterstützte, meint denn auch, dass von den Islamisten kaum eine Gefahr ausgeht: «Sie wirken gegen aussen einflussreicher, als sie tatsächlich sind.» Die jungen Leute würden jeden Versuch einer Machtübernahme durch eine einzige Gruppe sofort bekämpfen, glaubt der prominente Religionsgelehrte Aref Nayed, der dem Übergangsrat zur Seite steht.
Der Vorsprung der Islamisten
Doch in einigen Punkten sind die Islamisten den gemässigten Kräften voraus. Sie sind gut organisiert, und sie haben viel Erfahrung. Während der Herrschaft Ghadhafis agierten ihre Gruppierungen im Untergrund als einzige Opposition. So war der heute vermutlich einflussreichste Militärkommandant der Rebellen, Abdel Hakim Belhaj, Anführer der Libyschen Islamistischen Kampfgruppe. Heute ist er ein Held der Revolution. Als Anführer der Tripolis-Brigade war er an der Spitze des Umsturzes.
«Die Islamisten sind stark organisiert, das ist das Problem», sagt der Geschäftsmann Abdel al-Hadi al-Mishrogi der «New York Times». Da spiele die Tatsache, dass die meisten Libyer gemässigte Muslime seien, keine Rolle. Seiner Meinung nach haben die Islamisten bereits heute zu viel Einfluss. So habe die islamistische Dachorganisation Etilaf bereits heute mit ihrem Aktionismus säkulare Gruppierungen im Alltagsleben verdrängt.
Auch der libysche Schriftsteller Youssef Sherif ist skeptisch: «Militärkommandant Abdel Hakim Belhaji ist faktisch der Gouverneur von Tripolis, nur weil eine islamistische Miliz dies so bestimmt hat.» Die Islamisten würden von Tag zu Tag stärker, befürchtet Sherif. Nur schon aus diesem Grund müsse sich der Übergangsrat mehr Zeit für freie Wahlen lassen, rät der Schriftsteller. Nur so könnten sich die gemässigten Gruppierungen organisieren.
Verhärtete Fronten
Bereits gibt es Anzeichen, dass die gemeinsame Front nach dem Kampf gegen den Feind Ghadhafi am Bröckeln ist. So kritisierte kürzlich Mahmoud Jibril, Premierminister des Übergangsrates, bei einem Besuch in Tripolis den politischen Aktionismus der Islamisten, obwohl der Krieg noch gar nicht vorbei sei. Die Reaktion folgte prompt. «Jibril wird nicht mehr lange in seinem Amt sein», warnte Militärkommandant Belhaj. Auch der Kleriker Sallabi startete gegenüber al-Jazeera einen Angriff: «Jibril führt uns in eine Zeit der Tyrannei und Diktatur.» Der Premierminister sei ohnehin viel zu säkular und zu viel im Ausland, beklagte er sich gemäss der «Washington Post» weiter.
Jalil ist sich der wachsenden Spannungen bewusst. Der Übergangsrat versucht nur schon deswegen, die radikalen Kräfte aktiv einzubinden. Abdel Hakim Belhaj gehört dem Sicherheitskomitee des Übergangsrates an. Der Militärkommandant begleitete Jalil bereits nach Katar zu einem Treffen mit Vertretern der Nato. Er war es auch, der den Chef des Übergangsrates als Erster am Flughafen von Tripolis empfing. Experten glauben auch, dass Jalil als Vertreter des moderaten Lagers bewusst die Scharia so sehr in seiner Rede betonte. Es mag ein notwendiges Zugeständnis an die islamistischen Kräfte sein, in der Hoffnung auf ein friedliches, demokratisches Libyen.
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