Das «gefährlichste AKW der Welt» wird abgestellt
Der japanische Premier Kan hat sich durchgesetzt: Aus Angst vor einem weiteren Tsunami wird das AKW Hamaoka vorübergehend vom Netz genommen.
Von Christoph Neidhart, Tokio Chubu Electric, die Betreiberin des AKW Hamaoka, hat dem Druck von Premier Naoto Kan nachgegeben und am Montag beschlossen, die Reaktoren 4 und 5 abzuschalten. Reaktor 3, derzeit zur Wartung routinemässig stillgelegt, soll vorerst nicht wieder angefahren werden. Die Einheiten 1 und 2 sind eingemottet. Kans Aufforderung, Hamaoka abzuschalten, kam am Freitag völlig unerwartet. Warnungen, Hamaoka sei das gefährlichste Kernkraftwerk der Welt, gab es freilich schon vor Baubeginn 1970. Hamaoka liegt auf einer Erdbeben-Bruchlinie. Etwa alle 150 Jahre kommt es hier zu schweren Beben, zuletzt 1854 und 1855. Japanische Seismologen beziffern die Wahrscheinlichkeit, dass die Präfektur Shizuoka, in der Hamaoka auf einer Landzunge liegt, in den nächsten 30 Jahren von einem Erdbeben der Stärke 8 erschüttert wird, auf 87 Prozent. Ein solches Beben könnte einen Tsunami von bis zu 9 Meter Höhe auslösen. Hamaoka ist zwar auf stärkere Erdbeben ausgelegt als andere AKW in Japan, aber es gibt keine Tsunami-Sperre. Wie Tepco hat sich auch Chubu Electric gegen die Verschärfung der Sicherheitsauflagen gewehrt, weil sie Geld kosten. Als Katsuhiko Ishibashi, ein emeritierter Erdbebenforscher der Uni Kobe, 2007 als Mitglied der Parlamentskommission für Erdbebensicherheit der AKW das Szenario vorzeichnete, wie eine Havarie nach einem Erdbeben ablaufen könnte – und damit Fukushima I vorwegnahm –, tat er das am Beispiel von Hamaoka. Er hat Hamaoka als Erster als «das gefährlichste AKW der Welt» bezeichnet. Kleinere Zwischenfälle gab es auch in Hamaoka einige. Und auch Chubu Electric hat Defekte unterschlagen, so Risse in Dampfröhren, wie der scheidende Vorstandsvorsitzende Fumio Kawaguchi 2002 zugeben musste. Tokio wäre betroffen Hamaoka ist nicht nur gefährdeter als Fukushima I, eine Havarie dieses AKW wäre auch gefährlicher. Tokio liegt knapp 200 Kilometer nordöstlich – in Windrichtung. Ishibashi warnte, im Falle einer Havarie müsste man Tokio evakuieren. Die Tokaido-Shinkansen-Linie und die Autobahn, die Tokio mit den Zentren Nagoya und Osaka verbinden, führen wenige Kilometer nördlich am AKW vorbei. Wenn die Regierung nach einer Havarie eine 20-Kilometer-Sperrzone deklarieren müsste wie in Fuku-shima, wären diese beiden wichtigsten Verkehrsadern Japans unterbrochen. Kan verfügt jedoch über kein Gesetzesinstrument, um Chubu Electric zum Abschalten von Hamaoka zu zwingen. Er war sich dessen bewusst und setzte seinen politischen Kredit aufs Spiel. Erste Kommentare zeigen, dass er beim Volk zumindest kurzfristig etwas an Popularität gewonnen haben dürfte.Welches Selbstverständnis die nominell privaten Elektrizitätsfirmen Japans haben, bewies Chubu-Chef Akihisa Mizuno mit der Bemerkung, seine Firma könne die Zusatzkosten, die wegen der Abschaltung anfallen würden, nicht auf die Stromkunden und die Aktionäre abwälzen. Der Staat müsse sie übernehmen. Mizuno drohte weiter, Chubu Electric könne Tokio im Sommer nicht mit Strom aushelfen. Distanz zum «nuklearen Dorf» Das ist ohnehin nur bedingt möglich, da die Stromnetze von Chubu und Westjapan mit 60 Hertz getaktet sind, Tokio und der Osten des Landes mit 50 Hertz. Anders als Tepco dürfte Chubu Electric mit Wasser- und Thermokraft den Spitzenbedarf im Sommer einigermassen decken und die Autoindustrie versorgen können; Toyota und Suzuki haben ihre Hauptsitze im Bereich von Chubu Electric, andere Hersteller von Autos haben in deren Gebiet Fabriken. Mit Hamaoka hat sich Premier Kan erstmals vom «nuklearen Dorf» distanziert, wie man das korrupte Gekungel zwischen Politik, Beamten, Industrie und Wissenschaft nennt. Allerdings erntete er dafür nicht nur Lob. Die liberaldemokratische Opposition verwarf den Schritt als «ungeplant und plötzlich».Dagegen begrüsste ihn Toru Hashimoto, der Bürgermeister von Osaka, ein aufsteigender Polit-Star. Heita Kawakatsu, Gouverneur der Präfektur Shizuoka, wollte die Abschaltung «flexibler» haben. Auch durch die Bevölkerung geht ein Riss. Aus der Nachbarschaft anderer AKW wurde die Forderung laut, man solle deren Meiler auch abschalten. Yoshito Sengoku, ein Vertrauter Kans, versicherte, die andern AKW könnten weiterlaufen. Kans Desaster-Zar, der Sonderberater Goshi Hosono, liess diese Frage offen, es sei noch nichts entschieden – die Meinungsbildung über AKW hat erst begonnen.Auch im Städtchen Omaezaki, auf dessen Gebiet Hamaoka liegt, ist man gespalten. Die Angst sitzt tief. Aber das AKW hat Steuern bezahlt und Jobs gebracht. Hamaoka soll mindestens so lange abgeschaltet bleiben, bis eine Tsunami-Sperre gebaut ist. Das dauert zwei Jahre. Kommentar Seite 2 Tepco: Zu gross, um unterzugehen, Seite 41 Naoto Kan. Foto: Franck Robichon (EPA, Key)
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