Das gefährliche Experiment
Der Kampf um das Fiscal Cliff ist nicht nur ein Politpoker. Es ist auch ein höchst umstrittener Test im grössten ökonomischen Labor der Welt – mit ungewissem Ausgang.

«West Wing» heisst die beste US-TV-Serie aller Zeiten. Sie handelt davon, wie das Weisse Haus funktioniert. In einer Folge hat eine junge Mitarbeiterin des Chief of Staff eine bessere Idee als ihr Vorgesetzter. Ihr Vorschlag wird zu ihrer Verblüffung direkt vom Präsidenten übernommen. «Wie ist das möglich?», fragt sie. «Nun, wir spielen hier mit scharfer Munition», erhält sie trocken zur Antwort.
Mit scharfer Munition wird derzeit im Streit um das Fiscal Cliff geschossen. Das kann gefährlich werden. Die USA sind im Begriff, ein gigantisches ökonomisches Experiment durchzuführen, nicht im Labor, sondern mit der grössten Volkswirtschaft der Welt. Über den Ausgang rätseln die Experten. Und das ist die Ausgangslage:
Präsident Barack Obama hat die Wiederwahl gewonnen, und zwar klar. Er hat nicht nur die Mehrheit der Stimmen der Wahlmänner erhalten, sondern auch die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen. Sein zentrales Versprechen im Wahlkampf war, die Steuergeschenke an die Adresse der Superreichen, die sein Vorgänger George W. Bush gewährt hatte, wieder rückgängig zu machen. In diesem Punkt hat der Präsident gemäss Umfragen die Unterstützung von rund 70 Prozent der US-Bevölkerung. Zudem steht er auch unter Druck seiner Partei. Bei den Demokraten haben die Wahlen zu einer Radikalisierung geführt. Die Gemässigten , die sogenannte Blue-Dog-Fraktion, sind zu einem kleinen Grüppchen geschmolzen. Die Linken haben deutlich dazugewonnen. Sie sind zu keinem Kompromiss mit den Republikanern bereit. Das bedeutet: Der Präsident wird auf keinen Fall einem Deal zustimmen, der nicht eine Steuererhöhung für die Einkommen über 250'000 Dollar vorsieht.
3000 Dollar mehr Steuern pro Jahr
Die Republikaner sind schon länger unter dem Einfluss der radikalen Tea Party. Sie haben eine eigentliche Säuberung hinter sich. Die Gemässigten wurden als «Rinos» verleumdet (Republicans in Name Only) und von den Wahllisten gestrichen. Die meisten Republikaner, vor allem die Mitglieder des Abgeordnetenhauses, haben einen Steuerschwur von Grover Norquist unterschrieben. Er verpflichtete sie, niemals Steuererhöhungen zuzustimmen. Wer gegen diesen Schwur verstösst, riskiert, ebenfalls als Rino verstossen zu werden. Der Steuerschwur ist zudem für die Republikaner so etwas wie das zentrale Dogma geworden, vergleichbar mit dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes bei den Katholiken. Wenn sie in diesem Punkt nachgeben, dann ist dies für sie nicht nur eine schwere politische Niederlage, dann verlieren sie ihr Gesicht. Das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Deshalb suchen die Parteioberen derzeit verzweifelt nach einem gesichtswahrenden Notausgang. Wenn sie diesen nicht bald finden, dann rast die US-Wirtschaft über das Fiscal Cliff.
Fiscal Cliff, das bedeutet: Alle Steuerermässigungen, auch die für den Mittelstand und die Pay Roll Tax (Lohnnebenkosten), laufen ab 2013 aus. Für durchschnittliche Familien würde dies jährliche Mehrausgaben in der Höhe von rund 3000 Dollar zur Folge haben. Gleichzeitig würden harte Sparmassnahmen in Kraft treten, vor allem bei Militär- und Sozialausgaben. Beides zusammen würde der US-Wirtschaft einen gewaltigen Nachfrageschock versetzen. Was die Folgen sind, darüber streiten sich die Ökonomen.
Angst vor dem ganz grossen Absturz
Linke Ökonomen wie beispielsweise Paul Krugman glauben, die US-Wirtschaft könnte diesen Schock verkraften. Erstens, weil sie inzwischen wieder sehr viel besser dasteht als noch vor einem halben Jahr. Zweitens, weil der Schock nur kurz wirken würde. Die Republikaner müssten bald nachgeben und zu einem späteren Zeitpunkt einem Kompromiss mit Steuererhöhungen zustimmen. Was spricht für diese These? Die amerikanische Wirtschaft kommt derzeit tatsächlich in Schwung, und die Republikaner haben lausige Karten. Tritt das Fiscal Cliff in Kraft, dann macht die Mehrheit der Amerikaner die Republikaner dafür verantwortlich. Zudem erhalten die Demokraten mehr: Steuererhöhungen der Superreichen und massive Einsparungen beim Militärbudget.
Das ändert jedoch nichts daran, dass das Experiment äusserst riskant ist. Daran erinnert der an sich liberale Ökonom Alan Binder von der Princeton University im «Wall Street Journal». Er zeigt auf, dass ein vergleichbares Experiment unter Präsident Jimmy Carter – die Einführung von Kreditkontrollen – schlagartig zu einem Stillstand der Wirtschaft geführt hat, nicht wegen der Kontrollen, sondern wegen der Reaktion darauf. «Die Politiker haben die psychologische Wirkung massiv unterschätzt», stellt Binder fest. Eine ähnliche Reaktion befürchtet er auch auf ein Fiscal Cliff. Das Resultat wäre ein Rückfall in eine schwere Rezession und ein Ansteigen der Arbeitslosenquote. «Wie fühlen sich elf Prozent an?», fragt Binder rhetorisch und rät dringend zu einem Notplan. «Beeilt euch bitte. Wir wollen Weihnachten zu Hause feiern.»
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