Das Feuer von Sidi Bouzid
Vor einem Jahr steckte sich der Tunesier Mohammed Bouazizi in Brand und wurde damit zur Ikone der Revolution. Seine Geschichte erfuhr seither Korrekturen. Rückblende auf eine Szene aus der Provinz mit globalen Folgen.
Von Oliver Meiler Die Welt dreht sich zuweilen ruckartig, ganz plötzlich dreht sie schneller. Fast zufällig. Ein solch vermeintlicher Zufall trug sich am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid zu, einer ärmlichen Stadt im Innern Tunesiens, auf einem Hochplateau gelegen, 260 Kilometer von Tunis entfernt, weit weg von den Stränden auch, 40 000 Einwohner, viele Olivenbauern. Sidi Bouzid ist Hinterland, auch ein bisschen Niemandsland. Wie Kasserine und al-Kef. Tunis, das politische Machtzentrum, hat sich nie sonderlich um diese Städte im Herzen des Landes gekümmert. Die mächtigen Familien der Nation kamen alle von der Küste, Fortschritt und Tourismus spielten anderswo, die Investitionen flossen an Sidi Bouzid vorbei. Bouazizis letzte Stunde Mohammed Bouazizi schiebt an diesem Dezembertag seinen Gemüsekarren ins Zentrum, zum Taxistand, dann zum Platz vor dem Sitz des Gouverneurs. Wie jeden Tag. Die Ware hat er auf dem Morgenmarkt gekauft. Eine Lizenz hat Bouazizi noch immer keine. Er hat oft darum gebeten, wurde immer vertröstet. Die Gendarmen machen ihm das Leben schon seit vielen Jahren schwer, konfiszieren seine Ware, büssen und schikanieren ihn, stecken seine Einkünfte als Schmiergeld ein. Er macht weiter, hat keine andere Wahl. Er ist jetzt 26 Jahre alt. Eine komplizierte Familiengeschichte zwang ihn schon früh zum Arbeiten, knapp nach Erreichen der mittleren Reife. Er ernährt die Familie. Die letzten Tage waren gut gewesen, die Einkünfte höher als sonst, die Gendarmen liessen ihn in Ruhe. Es ist 10.30 Uhr. Fayda Hamdi stellt sich ihm in den Weg, eine Polizistin mit gestrengem Ruf. Sie fordert Bouazizi auf, seine Sachen einzupacken und zu verschwinden. Sie kennen sich, sie streiten sich. Es fallen böse Worte. Fayda Hamdi beschlagnahmt Bouazizis Karren und Waage. Seine Freunde werden später sagen, die Polizistin habe ihn ins Gesicht geschlagen, eine Ohrfeige, ihn gedemütigt – einmal mehr.Bouazizi geht zur Polizei, beschwert sich. Die schickt ihn weiter zum Gouverneur. Er klopft an die Jalousien dieses schmucklosen Gebäudes der Obrigkeit. Doch niemand öffnet ihm, keiner will sich sein Lamento anhören. Und so geht Bouazizi zum nächsten Laden, kauft einen Kanister Benzin, kehrt zurück auf den Platz vor dem Gouverneursgebäude, übergiesst sich mit Benzin und steckt sich in Brand. Frustriert und verzweifelt.Es ist 11.30 Uhr. Arabien brennt, ohne es zu wissen. Mohammed Bouazizi aus Sidi Bouzid entfacht gerade an seinem hageren Körper das Feuer, das bald alte, vermeintlich unverrückbare Gewissheiten einer Weltgegend wegfressen wird. Mächtig und wuchtig. Eine Zeitenwende läutet er ein, der junge Gemüsehändler ohne Zukunft, einen Sturz von Diktaturen und Diktatoren: Ben Ali, Mubarak, Ghadhafi. Der Frühling beginnt, der arabische Frühling. Die Wiege der Revolution Ein Zufall? Grosse Revolutionen beginnen oft mit scheinbar kleinen Gesten, denen das Potenzial zum Momentum innewohnt, die den Zeitgeist treffen und exemplarisch prägen. Es waren die Bekannten, die Freunde, die Familie vom Mohammed Bouazizi, die das Momentum förderten. Sie trommelten zur Demonstration vor dem Sitz des Gouverneurs, schrien ihren Frust aus der Seele: über die Last der Arbeitslosigkeit, über die drückende Korruption der Polizei, über die Arroganz des Regimes. Es war nicht das erste Mal, dass sich in Tunesien Protest regte. Es gab schon grosse Brotrevolten in der Vergangenheit, sie wurden allesamt hart niedergeschlagen. Doch Sidi Bouzid stand auf und trotzte der Repression. Auch Kasserine stand auf. Und al-Kef. Das vernachlässigte Herz des Landes mutierte zur Wiege einer Revolution, im Namen Mohammed Bouazizis, ohne dass die Welt in den ersten Tagen gebührend Notiz davon genommen hätte. Junge Tunesier filmten mit ihren Mobiltelefonen, wie sich die Massen Tag für Tag mobilisierten, wie die Polizei auf Geheiss von Präsident Ben Ali auf das Volk schoss, wie Verletzte durch voll belegte Korridore der Spitäler getragen wurden. Die Filme erschienen auf Facebook, Youtube, im panarabischen Sender al-Jazeera. Und mit ihnen die Geschichte des «Märtyrers», von Mohammed Bouazizi also, der zwei Wochen nach seiner Selbstverbrennung sterben sollte. Ben Alis schneller Sturz Die Geschichte wurde als Legende aufbereitet, etwas frisiert, wie man heute weiss. So ist zum Beispiel höchst fragwürdig, ob die Polizistin Bouazizi tatsächlich geohrfeigt hat. Es ist sogar sehr unwahrscheinlich. Kein Zeuge hat sie zuschlagen sehen. Sie selber erzählte vor den Richtern, er habe sie beschimpft, ihr die Uniformabzeichen abreissen wollen. Die Justiz des neuen Tunesien sprach Fayda Hamdi ganz frei. Und das war nicht absehbar gewesen bei der allgemeinen Verklärung, die der Symbolfigur, der Ikone des Aufstands, zuteilgeworden war. Man widmete ihm Briefmarken, Strassen, Plätze, Spitäler, er erhielt Preise posthum. Auch im Ausland. Zur Legende gehörte auch, dass Bouazizi angeblich einer von Tunesiens 150 000 arbeitslosen Universitätsabgängern sei, wie es zunächst hiess, und sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlage. Die Geschichte sollte breit zugänglich gemacht werden, den bäuerischen Kontext von Sidi Bouzid verlassen, bis nach Tunis strahlen. Und so kam es. Als der Protest auf die Hauptstadt überschwappte und die Gewerkschaften zur Mobilisierung bewegte, waren die Tage Ben Alis gezählt. Erst dann. 26 Jahre hatte Ben Ali über Tunesien geherrscht. Er fiel in wenigen Tagen. Die tragische, deutlichste aller Gesten des jungen Gemüsehändlers hat seine eiserne Macht untergraben, unterspült, entleert. Ein Jahr ist es her, erst ein Jahr. Und in der arabischen Welt ist nichts mehr, wie es einmal war. Auf Tunesien folgten Ägypten, Libyen, der Jemen, Syrien. Und auch in allen anderen Staaten der Region blies schnell ein Wind des Wandels, der die Mächtigen zu Reformen zwang, zu Konzessionen, denen sie sich bis dahin immer verweigert hatten. Die Angst habe das Lager gewechselt, hiess es. Kein Sinnspruch spiegelt den Umbruch besser als dieser. Doch nirgendwo ist der Wandel schon so weit fortgeschritten wie dort, wo er geboren wurde. Tunesien hat die unmittelbaren Wirren nach der Revolution schnell in den Griff bekommen. Zwar leidet die postrevolutionäre Wirtschaft noch immer. Zwar ist der Tourismus weit entfernt von den Volumen der letzten Jahrzehnte. Und die Arbeitslosigkeit ist hoch, lässt viele von Auswanderung träumen. Doch die politische Lage, die hat sich schnell beruhigt. Die Partei Ben Alis wurde verboten, viele Funktionäre ersetzt. Die alten Zeitungen fanden eine neue Stimme, die Talkshows einen neuen Ton, die Blogs waren frei. Dissidenten kehrten heim, liessen sich feiern, liessen sich ihr Tunesien zeigen, das neue Tunesien. Nicht ist mehr, wie es war Parallel dazu, mitten in der noch fragilen Euphorie über die neue Freiheit, liefen schon die Vorbereitungen für den Übergang, wurden neue Wahlregister erstellt, die alten und gefälschten entsorgt, wurden Parteien gegründet, politische Bündnisse geschmiedet. Und eine verfassunggebende Versammlung haben sie mittlerweile auch schon gewählt, die Tunesier. Ohne Zwischenfälle, ohne Gewalt, ohne grosse Polemik. Gewonnen haben die Islamisten. Sie stellen jetzt den Premierminister. Der Präsident dagegen ist ein linker Laizist. Und auch der Präsident der Konstituanten ist ein Säkularer. Alles einst Gegner Ben Alis. Eine Karriere lang hatten sie ohnmächtig opponiert, hatten sich wohl längst damit abgefunden, dass sie nie mitregieren würden, dass das Regime ewig währen würde. Dann plötzliche brannte Mohammed Bouazizi. Und Sidi Bouzid, Kasserine, al- Kef. Und bald ganz Tunesien und Ägypten, Libyen, der Jemen, Syrien, die arabische Welt und die Welt gleich mit. Nichts ist mehr, wie es war. Auch für den Westen nicht, der sich so lange arrangiert hatte mit den arabischen Unterdrückern. Überraschend schnell passierte das, aber nicht zufällig. Nirgendwo ist der Wandel so weit fortgeschritten wie dort, wo er geboren wurde. Die Geste bewahrte ihn nicht vor dem Untergang: Tunesiens Präsident Ben Ali am Spitalbett des sterbenden Gemüsehändlers Bouazizi. Foto: EPA, Keystone
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch