Das Ende des friedlichen Protests
Kiew brennt. Doch weder die ukrainische Opposition noch die Regierung haben eine Strategie, wie das Land wieder aus der gefährlichen Krise herauskommt, die sie gemeinsam heraufbeschworen haben.
Vor zwei Monaten, als der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch das Abkommen mit der EU platzen liess, begann der Aufstand in Kiew. Erst waren es Zehntausende, dann strömten Hunderttausende Menschen auf die Strasse – ein Meer aus blauen EU-Fahnen. Ein heterogenes Oppositionsbündnis setzte sich an die Spitze des Protests, stellte dem Regime Ultimaten und heizte der Menge mit zügigen Slogans ein: Die Ukraine gehöre zu Europa, das Volk werde das Regime von Staatschef Janukowitsch einfach hinwegfegen und Neuwahlen erzwingen.
Die Ukrainer waren geduldig, kamen jedes Wochenende wieder, obwohl viele nicht nur der Regierung, sondern auch der Opposition nicht über den Weg trauen. Einmal waren es 100'000, einmal 200'000, die mit ihren EU-Fahnen in der Hand auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew standen – eine beeindruckende Willensdemonstration des ukrainischen Volkes. Doch Janukowitsch nahm sie gar nicht zur Kenntnis. Er machte statt mit der EU mit Russland einen Deal, als gebe es den Widerstand zu Hause gar nicht.
Wut und Frustration
Doch nun sind es nicht mehr Hunderttausende von friedlichen Demonstranten, die den Protest anführen, sondern eine kleine Gruppe gewaltbereiter Schläger. Unter den Demonstranten, die den harten Kern des Aufstandes bilden, machen sich schon lange Wut und Frustration breit. Zu Tausenden frieren sie seit zwei Monaten in der Kälte, harren sieben Tage die Woche, Tag und Nacht auf dem Unabhängigkeitsplatz aus, wehren sich gegen Attacken der Polizei, errichten Barrikaden – offenbar vergeblich. Schliesslich stand ein Schlägertrupp bereit, der das ewige Gerede der Oppositionsführer von Sieg, Neuwahlen, Resolutionen und Ultimaten satthatte. Diese zumeist jungen Leute aus dem rechten Politspektrum haben Anfang Woche die Sache selber in die Hand genommen und griffen die Polizei mit Brandbomben, Feuerwerksraketen, Pflastersteinen, Ketten und Schlagstöcken an.
Seither brennt Kiew. Bei den Strassenschlachten und den Angriffen der Polizei sind Hunderte verletzt worden, mehrere Demonstranten starben. Am Sonntagabend hatte sich der gemässigte Oppositionsführer Witali Klitschko noch todesmutig zwischen die Fronten gestellt. Mit einem Megafon rief er die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit auf. Sie haben ihn ausgepfiffen. Inzwischen unterstützt auch Klitschko die gewaltbereite Fraktion der Demonstranten und erklärt, er werde die Demonstranten in den Kampf führen, wenn Janukowitsch nicht zurücktrete. Sein Kollege Arseni Jazenjuk sagt, er wolle lieber eine Kugel in den Kopf, als von diesem Ziel abweichen. Kein Zweifel: Die Zeit des friedlichen Protests ist vorbei.
24-StundenUltimatum
Nur der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch scheint die Rauchfahnen über der Stadt noch nicht bemerkt zu haben. Nach den ersten Toten bot er am Mittwoch zwar Gespräche an, doch offensichtlich war keine Seite wirklich daran interessiert. Die Opposition verkündete ein 24-StundenUltimatum, bevor sie zu den Verhandlungen fuhr. Und der Präsident selber zeigt sich weiterhin keiner Schuld bewusst und zu keinem Eingeständnis bereit. Er verlangt einfach, dass die Leute nach Hause gehen. Das Regime hatte nach dem geplatzten Vertragsabschluss mit der EU gehofft, dass sich der Protest von selber wieder legt und man die Krise aussitzen kann. Die Polizei hielt sich zurück. Ein paar Mal versuchten die Sicherheitskräfte, die Demos brutal aufzulösen, zogen sich dann aber wieder zurück.
Trotz der gefährlichen Eskalation hat Janukowitsch offensichtlich noch immer keinen Plan, wie er die gefährliche Krise in den Griff bekommen könnte. Und auch die Opposition hat keine Idee, wie sie die Geister, die sie rief, wieder loswerden könnte. Einig sind sich beide Seiten nur darin, dass die Schuld allein beim politischen Gegner liegt. Mit dieser selbstherrlichen Überzeugung haben Regierung und Opposition das Land Seite an Seite in eine Katastrophe manövriert, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.
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