LiteraturDas dreifache
Bananen-Problem
Olivia Wenzel hat einen Roman über eine schwarze ostdeutsche Frau geschrieben, die um ihre Privilegien weiss.

Der Alltag der Erzählerin in Olivia Wenzels Roman «1000 Serpentinen Angst» ist geprägt von Mikroaggressionen, die sich unter anderem immer dann ballen, wenn sie in aller Öffentlichkeit eine Banane isst. Im Buch heisst diese Versuchsanordnung «Das dreifache Problem mit der Banane»: Als schwarze Person wecke die Banane Assoziationen zum Affen, als Ossi zur traditionellen ostdeutschen Konsumunterlegenheit und als Frau zum Oralsex. Bei einem Ausflug nach New York aber erlebt die Erzählerin dieses hier: «In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen.»
Das Buch der 1985 geborenen Autorin ist grösstenteils in dialogischer Form gehalten, aber trotzdem nicht sokratisch. Eine der beiden Stimmen stellt übergriffige Fragen, die andere antwortet gewissenhaft. Dass man nie weiss, wer an dieser Unterhaltung überhaupt teilnimmt, gehört zum Gestaltungsprinzip. Es könnte sich um eine Unterhaltung zwischen dem Ich und dem Über-Ich handeln, zwischen der Autorin und der Protagonistin, zwischen Analytikerin und Patientin, zwischen der Erzählerin und ihren Dämonen.
Schwarz und konservativ
Die Fragen sind häufig von der Art, wie man sie auch von Facebook gestellt bekommt: Wo bist du gerade? Wie geht es dir? Was machst du? An einer Stelle aber trifft die Stimme einen wunden Punkt, als sie die verhängnisvolle Frage stellt: «Du flirtest ganz gern mit dem Kapitalismus, oder?» Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Erzählerin als deutsche Staatsbürgerin auf die Vorteile des Kapitalismus auch nicht verzichten möchte.
Sie unternimmt Reisen nach New York, Marokko, Vietnam, macht interessante Erfahrungen mit anderen Kulturen, probiert verschiedene Therapeuten aus und nimmt sich die Rolle als Verdammte dieser Erde nicht einmal selbst ganz ab. Und genau dieses Verhältnis macht «1000 Serpentinen Angst» zu einem so bemerkenswerten Buch: Die Erzählerin ringt mit dem Umstand, gleichzeitig Unterdrückerin und Unterdrückte zu sein.
Olivia Wenzels Erzählerin macht sich bewusst, welche Rolle rassistische und sexistische Stereotype in ihrem Leben gespielt haben, emanzipiert sich aber gleichzeitig von der wiederum beengenden Minderheitenidentität. Die Freiheit, die sie so erlangt, besteht letztlich darin, dass sie sich zu ihrer Geschichte in Beziehung setzt, ohne sich von ihr dominieren zu lassen. Dieser Schritt ist nicht ganz unbedeutend, weil er identitätspolitisches und linkes Denken entkoppelt. Man kann auf diese Weise schwarz, konservativ und deutsch zugleich sein.Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020. 352 S., ca. 30 Fr.
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