«Das Desaster war vermeidbar»
Die Spurensuche in der Notre-Dame ist schwierig. Denkmalschützer haben bereits einen Schuldigen ausgemacht: den französischen Staat.
Die Verschwörungstheoretiker liessen nicht auf sich warten. Wenn Notre-Dame brennt, kann das für sie kein – wenn auch ausgesprochen unglücklicher – Unfall sein. Bald nachdem am Montag der Brand in der Pariser Kathedrale ausgebrochen war, kursierten in den sozialen Netzwerken Bilder, die beweisen sollten, dass das Feuer in böser Absicht gelegt worden sei.
Der Pariser Staatsanwalt Rémy Heitz glaubt das nicht. Nichts deute auf Vorsatz, sagt er. Allerdings: Auch er steht vor vielen offenen Fragen zur Brandursache. Und es gilt durchaus Ungereimtheiten aufzuklären, um festzustellen, wer Schuld trägt.

Eine der Merkwürdigkeiten ist, dass um 18.20 Uhr am Montag ein erster Feueralarm in Notre-Dame ausgelöst wurde, daraufhin vom Aufsichtspersonal aber «keinerlei Feuerentwicklung entdeckt wurde», so Heitz. Um 18.43 Uhr gab es dann einen zweiten Alarm. «Und da wurde Feuer am Dachstuhl bemerkt.»
Die Ermittlungen werden «lang und komplex», sagt Heitz. Schnelle Antworten gibt es nicht. Und so müssen sich diejenigen, die in Frankreich um das zerstörte Weltkulturerbe trauern, mit dem Glockengeläut trösten, das alle Kathedralen des Landes am Mittwoch als Hommage an den Schwesterbau in Paris angestimmt haben.
Sicher ist, dass die ersten Flammen just an der Stelle des Kirchendachs bemerkt wurden, an der es gerade renoviert wurde. Ein Sprecher der Gerüstbaufirma Europe Échafaudage beteuert: Zu dem Zeitpunkt, als das Feuer ausbrach, sei kein Mitarbeiter des Unternehmens mehr auf dem Dach gewesen. Der Betrieb war der einzige von fünf mit der Renovierung betrauten Firmen, dessen Mitarbeiter am Montag auf dem Dach waren.

«Der letzte ist um 17.50 Uhr gegangen», so der Sprecher. Da sei auch der Baustellenstrom, eine mögliche Brandquelle, vorschriftsmässig abgeschaltet worden. Dies sei in einem Register festgehalten worden, das in der Sakristei von Notre-Dame hinterlegt war. Die Firma habe zudem der Polizei die Aufnahmen einer Überwachungskamera übergeben. Europe Échafaudage schliesse «jegliche Verantwortung» aus.
Die Ermittler haben zwölf Gerüstbauer befragt, die am Montag auf dem Dach von Notre-Dame arbeiteten. Vor Ort Spuren zu sichern, wird schwierig, da der Dachboden komplett zerstört ist. Damit die Nachforschungen an der Kathedrale überhaupt beginnen können, müssen ohnehin tagelange Sicherungsarbeiten am Mauerwerk abgeschlossen sein. 50 Ermittler sind für Heitz im Einsatz.
Während die Frage nach der konkreten Schuld fürs Erste ungeklärt bleibt, haben französische Kunsthistoriker und Denkmalschützer zumindest einen Mitverantwortlichen ausgemacht: den Staat. Der ist nicht nur Eigentümer der Kathedrale. Seine Verwaltung definiert auch die Sicherheitsstandards für historische Gebäude.
Bilder: Notre-Dame in Flammen
«Die Vorschriften für Arbeiten an denkmalgeschützten Bauwerken sind ungenügend», sagt Didier Rykner, Chefredaktor der Fachzeitschrift «La Tribune de l'art». «Das Desaster war vermeidbar.» Für Rykner ist Notre-Dame ein Opfer von Fahrlässigkeit. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein historischer Bau bei Renovierungsarbeiten schwer beschädigt wird.
Der Direktor von Notre-Dame, Patrick Chauvet, weist die Vorwürfe zurück. Dreimal täglich hätten Aufseher den Dachstuhl überprüft, sagt er. Nach Angaben der Kirchenverwaltung war der gesamte Bau ausserdem mit Feuermeldern ausgerüstet.
«Es muss die Kathedrale brennen, damit das Geld plötzlich kein Problem mehr ist.»
Für Kritiker Rykner ist die Ursache des Malaises aber viel grundsätzlicher: Der französische Staat vernachlässige die vielen Kirchen, die in seinem Besitz sind. Selbst für die Renovierung des Weltkulturerbes Notre-Dame seien die Mittel stets knapp gehalten worden. «Es muss die Kathedrale brennen, damit das Geld plötzlich kein Problem mehr ist», lautet Rykners sarkastischer Kommentar mit Blick auf Spenden in Höhe von inzwischen 850 Millionen, die reiche Gönner für Notre-Dame zugesagt haben.
Tatsächlich erklärt Frankreichs Kulturminister am Mittwoch, Geldfragen seien keine Sorge mehr beim bevorstehenden Wiederaufbau des Sakralbaus. Überhaupt hat der Brand einen wahren Hype um das Pariser Wahrzeichen ausgelöst: «Der Glöckner von Notre-Dame», der Romanklassiker von Victor Hugo, ist plötzlich der Bestseller auf der französischen Seite des Internethändlers Amazon.
Auch Präsident Emmanuel Macron kennt seit Montagabend kein anderes Thema mehr. Und seine Regierung bereitet ein «Notre-Dame-Gesetz» vor, das grosszügige Abschreibungsmöglichkeiten auf Spenden vorsieht. Auch einen Koordinator für den Wiederaufbau hat sie schon berufen – einen General der Armee. Von Vernachlässigung kann da keine Rede mehr sein.
Karikaturen: Das Pariser Feuerdrama gezeichnet
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