«Das Brutale am gestrigen Verdikt»
Richtig glücklich ist niemand mit der 20-Prozent-Beschränkung für Zweitwohnungen. Wer trägt Schuld am Verdikt? Wie geht es weiter? Kommentatoren analysieren.

Die Zweitwohnungsinitiative trifft Tourismuskantone an der Achillesferse. So auch den Kanton Graubünden. «Das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet», kommentiert Chefredaktor David Sieber in der «Südostschweiz». Das sei die Schuld der etablierten Politik, die es in der Hand gehabt hätte, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Doch die Bau- und Berggebietslobby habe dies verhindert.
Sieber kritisiert Gemeinden, die «aus kurzsichtigem Gewinnstreben rücksichtslos zubetonieren und eigentliche Zweitwohnungsghettos entstehen liessen». Sie hätten der Initiative zum Durchbruch verholfen. Büssen müssten aber die Dörfer, die eine zurückhaltende Politik verfolgt hätten, ihnen drohe nun die Stagnation. «Das ist das Brutale am gestrigen Verdikt.»
Wallis erwartet Hilfe
Stark betroffen ist auch das Wallis, das die Zweitwohnungsinitiative mit dem höchsten Nein-Stimmenanteil abgelehnt hat. Volkswirtschaftsdirektor Jean-Michel Cina (CVP) fordert Unterstützung: «Ich erwarte, dass man uns bei der nun anstehenden Umstellung unserer Tourismuswirtschaft unter die Arme greift.» Den Mittellandkantonen, die der Initiative im Gegensatz zu den Bergkantonen zugestimmt haben, macht er Vorwürfe: «Liebe Freunde im Mittelland, so geht das nicht», sagt der ehemalige Nationalrat Cina in der «Basler Zeitung». «Es ist schon problematisch: Im Mittelland presst man den Boden bis zum Letzten aus, und bei uns sucht man die intakte Berglandschaft.»
Markus Somm, Chefredaktor der «Basler Zeitung», bezeichnet das Abstimmungsergebnis als «Entscheid der Nostalgie-Schweiz». Diesem hafte etwas Koloniales an: «Das Unterland macht dem Oberland Vorschriften, wie es mit seinen Ressourcen umzugehen hat.» Es sei grundsätzlich falsch, etwas auf Bundesebene festzulegen, was lokal viel besser zu entscheiden sei, schreibt Somm. «Wenn jemand um das Dilemma zwischen Naturschutz und Wirtschaftlichkeit weiss, dann die Betroffenen selber.»
Tourismuskanton Bern sagte Ja
Erklären muss sich vor allem der Kanton Bern – ein Tourismuskanton, der sich für die Zweitwohnungsinitiative ausgesprochen hat. «Das Unbehagen über die Zersiedelung alpiner Landschaften reicht offensichtlich bis in die Tourismusregionen hinein», schreibt Marc Lettau in seinem Kommentar im «Bund». Die Diskrepanz zwischen Postkarten-Schweiz und Wirklichkeit sei zu gross geworden.
Nach Erklärungen sucht auch die NZZ und kommt zum Schluss: «Dass solch radikale und schwer umzusetzende Ansätze Zustimmung finden, ist Ausdruck eines schwindenden Vertrauens in die Behörden beziehungsweise deren Willen, bestimmten Gruppen entgegenzuwirken, wenn deren partikuläre Interessen zu sehr in Konflikt mit dem Allgemeinwohl geraten.» Einmal mehr stosse eine überzogene und zu pauschale Antwort auf Exzesse in der Vergangenheit beim Souverän auf Akzeptanz.
Temperatur in Ferienbetten messen?
Der Umsetzung blickt man sorgenvoll entgegen. «Der Teufel steckt im Detail», schreibt die NZZ. Insbesondere dränge sich eine Klärung auf, was unter einer Zweitwohnung genau zu verstehen ist. Das «St. Galler Tagblatt» fragt: «Wie wird verhindert, dass der Zweitwohnungsbau in andere Gemeinden verlagert und die Zersiedelung noch mehr angekurbelt wird?»
«Werden Gemeinden nun akribisch-detektivisch die Temperatur von Ferienbetten messen? Folgt nun ein kurzer, zusätzlicher Bauboom, weil hängige Gesuche für Zweitwohnungen beschleunigt werden?», fragt der «Bund». Jedenfalls deute das Volks-Ja zum Zweitwohnungsstopp auf eine Umkehr hin. Der Vertrauensverlust in die Raumplanung «von unten» sei gross. Es sei der Ruf nach Raumplanung «von oben» entstanden, die sich auch als Instrument der Umweltpolitik versteht.
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