Selbstständigkeit statt Krise Das Arbeitsamt hielt sie für unvermittelbar, heute ist sie Millionärin
Die gebürtige Isländerin Sigrun Gudjonsdottir hat aus dem Nichts ein erfolgreiches Coaching-Unternehmen aufgebaut. Sie will anderen Frauen Mut machen, es ihr gleichzutun.

Die Krise als Chance? Man mag es nicht mehr hören. Worin genau besteht die Chance, wenn man zu Hause in seinen vier Wänden festsitzt, sich um eine neue Stelle bewirbt oder versucht, sein Einpersonengeschäft halbwegs zum Laufen zu bringen?
Sigrun Gudjonsdottir kennt diese Situation nur zu gut. Vor sieben Jahren sass sie in Zürich in ihrer Wohnung, niedergeschlagen nach zwei Jobverlusten in kurzer Zeit und zermürbt von chronischen Nackenschmerzen. Vier Universitätsabschlüsse hatte die Isländerin vorzuweisen, dazu Führungserfahrung auf oberster Ebene, erfolgreiches Turnaround-Management, IT-Affinität. Sie wäre die ideale Besetzung für viele Start-ups, fand sie selber. Ihr Berater im Arbeitsvermittlungszentrum sah das anders: «Zu teuer, überqualifiziert und deshalb unvermittelbar.» Die vielen Absagen, die sie auf ihre Bewerbungen erhielt, gaben dem RAV-Berater recht.
In der Not entschied sich Gudjonsdottir für den Schritt in die Selbstständigkeit. Sie hatte sich zuvor in Facebook-Gruppen für Unternehmerinnen engagiert und gemerkt, dass ihr Rat dort sehr gefragt war und es ihr Spass machte, ihre Erfahrung zu teilen. Bloss hatte sie damit keinen Franken verdient.
Mit einem Blog fing es an
Im Herbst 2013 startete sie einen Blog – nicht als Expertin, sondern als Betroffene. Erster Eintrag: «Warum man loslegen muss, bevor man wirklich parat ist.» Sie schrieb über Hürden bei der Firmengründung, über den eigenen Perfektionismus, über all die Barrieren im Kopf. Und eines Tages platzierte sie ein Banner auf ihrer Website: «1 Stunde Onlinecoaching: 180 Dollar». Wenig später, am 26. März 2014, buchte die erste Kundin – Gudjonsdottir war so elektrisiert, dass sie das Datum bis heute im Kopf hat und feiert.
«Es ging mir nicht ums Geld, sondern ich wollte mit der Million zeigen, was Frauen erreichen können, wenn sie gross denken.»
Heute kostet die Stunde bei Sigrun, die ihren Vornamen zur Marke gemacht hat, 1500 Dollar, ihren Jahresumsatz hat sie von 72'000 Dollar im ersten Jahr auf 2,2 Millionen Dollar 2019 gesteigert. Wie war das möglich in nur fünf Jahren?
Darauf gibt es eine betriebswirtschaftliche und eine psychologische Antwort. Entscheidend sei, nur ganz am Anfang Einzelstunden zu verkaufen, sagt die Isländerin, die seit 2017 auch den Schweizer Pass hat. Sie ging zügig dazu über, Gruppenseminare anzubieten – erst mit einem halben Dutzend, später auch mit bis zu 100 Teilnehmenden. Richtig skalierbar werde das Geschäft aber erst, wenn man das eigene Wissen in Onlinekursen vermittle.

Und damit zur psychologischen Komponente: Wer schon im zweiten Jahr nach der Gründung in einem Interview forsch die Umsatzmillion fürs vierte Jahr als Ziel ausruft, braucht einen besonderen Antrieb. «Es ging mir nicht ums Geld, sondern ich wollte mit der Million zeigen, was Frauen erreichen können, wenn sie gross denken», sagt Sigrun. Als Teenager in Island sei sie unglaublich wütend gewesen, so viele Frauen zu sehen, die sich von ihren Träumen verabschiedet und dafür alle möglichen Gründe gefunden hätten. Das wollte sie anders machen.
Ohne Mut geht es nicht
Auch heute höre sie bei ihren Kundinnen aus aller Welt alle möglichen Ausreden: keine Zeit wegen Kindern, kein Support vom Ehemann, kein Flair für Technologie oder Finanzen. «Übersetzt heisst all das: Ich traue mich nicht. Oder: Es ist mir nicht wichtig genug.» Denn wer wirklich wolle, brauche zu Beginn nichts als eine Facebook-Gruppe und eine grosse Portion Mut.
Inzwischen erreicht Sigrun über ihren Newsletter über 20'000 Abonnentinnen, und ihre Kundenkartei zählt über 2000 Einträge. Mit dem richtigen Geschäftsmodell sei es in fast allen Branchen möglich, ein lukratives Onlinegeschäft aufzubauen, sagt die Unternehmerin, die heute ein 10-köpfiges Team beschäftigt: von der Hundetrainerin über den Mathematiklehrer, der Designerin über den Architekten, der Versicherungs-Brokerin über den Koch.
Sigrun nennt das Beispiel einer promovierten Wiener Ernährungsberaterin, die trotz grosser Expertise so wenig verdient habe, dass sie 20 Jahre lang kaum ihre Rechnungen habe bezahlen können. «Wir haben das Geschäftsmodell umgestellt: Nun arbeitet sie nicht mehr halb gratis für alle, sondern unterrichtet die Profis für gutes Geld», sagt Sigrun. Der Schritt habe viel Überwindung gekostet – «Sie hat mich gehasst!» –, doch die Einnahmen hätten sich schon im ersten Jahr verdoppelt. Aktuell drehe gerade der ORF eine TV-Sendung über sie.
Und welche Ziele hat sich Sigrun für die nächste Zeit gesteckt? «Keine finanziellen!» Kurzfristig wolle sie möglichst viele Frauen dabei unterstützen, ein Onlinegeschäft aufzubauen. Ein anderes Ziel musste Sigrun um ein Jahr verschieben. Am 18. Juni hätte sie 1000 Unternehmerinnen aus aller Welt in Island zu einer Konferenz zusammenbringen wollen. Was in diesem Jahr nicht möglich ist, soll 2021 umso besser gelingen.
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