«Da war kein einziger Flüchtling darunter»
Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge bestreitet das Gerücht, es habe bezüglich der irakischen Flüchtlinge eine Vereinbarung gegeben. Derweil verteidigt Christoph Blocher das Verhalten des BFM.

Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) weiss nichts von einer Vereinbarung mit der Schweiz über die irakischen Flüchtlinge, deren Asylgesuche zwischen 2006 und 2008 in der Schweizer Botschaft in Syrien eingereicht wurden. Untersuchungen seien im Gange.
«Wir klären zurzeit ab, welche Gespräche zwischen der Schweiz und dem UNHCR geführt wurden. Von einer Abmachung zwischen dem UNHCR und der Schweiz wissen wir nichts», sagte Susin Park, Leiterin des Schweizer UNHCR-Büros in Genf, auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda. Eine solche Vereinbarung sei nicht üblich, sagte sie. «Wir untersuchen nun, wer vom UNHCR was gesagt haben könnte.» Gemäss Park müsste der Hauptsitz in Genf über solche Vorgänge informiert sein.
Entgegennahme von Asylgesuchen ist Pflicht
Die Chefin des Schweizer UNHCR-Büros erinnerte auch daran, dass die Schweiz gemäss der aktuellen Rechtslage verpflichtet sei, in Botschaften Asylgesuche entgegenzunehmen und zu behandeln.
Zwischen 2006 und 2008 hatten die Schweizer Botschaften in Syrien und Ägypten zwischen 7000 und 10'000 Asylgesuche von irakischen Flüchtlingen erhalten. Die Schweiz behandelte die Gesuche jedoch nicht.
Dass in den Botschaften von Damaskus und Kairo Asylgesuche schubladisiert wurden, geschah zwar auf Weisung des Bundesamtes für Migration (BFM) – doch erst nach einer Intervention durch den Schweizer Botschafter in Damaskus. Dies deckte die Sendung «10vor10» von Schweizer Fernsehen (SF) am Donnerstag auf. Demnach schrieb der damalige Botschafter in Syrien und heutige Schweizer Missionschef bei der EU, Jacques de Watteville, am 13. November 2006 einen Brief an den damaligem BFM-Direktor Eduard Gnesa.
«Lawine an Asylgesuchen»
Darin wehrte sich de Watteville gegen die Praxis, Asylgesuche in der Botschaft entgegenzunehmen und an das BFM weiterzuleiten. De Watteville befürchtete unter anderem eine «Lawine» an Asylgesuchen. Die Schweiz riskiere, «alle Asylanfragen anzuziehen und von diesen überflutet zu werden», warnte er. Eine Bearbeitung der Asylgesuche könne auch «eine Zusammenrottung von Asylsuchenden vor der Botschaft» provozieren. Ferner steige das Risiko für Botschaft und Personal, das zudem unter der Überbelastung leide.
«Unter diesen Umständen schlagen wir vor, im Moment nicht auf diese Briefe (die Gesuche, die Red.) zu reagieren und abzuwarten und zu schauen, was die anderen Botschaften wirklich tun», forderte de Watteville. Gemäss Brief kam der zweite Vorschlag, das Abwarten, von Seiten des BFM. Einen weiteren BFM-Vorschlag, sich mit anderen westlichen Botschaften und dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR abzustimmen, unterstützte de Watteville. Er wurde in seinem Vorgehen nicht nur vom BFM, sondern auch vom Direktor des UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bestärkt. Dieser habe ihm bei einem Besuch nahegelegt, nicht auf die Gesuche einzutreten und die Gesuchssteller ans UNHCR zu verweisen.
Eine Kopie des von «10vor10» veröffentlichten Schreibens von de Watteville liegt der Nachrichtenagentur sda vor, ebenso eine Kopie eines vom BFM am 27.Juni 2011 dem Generalsekretariat des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vorgelegten «Fact Sheet», das die Ereignisse chronologisch nachzeichnet.
BFM reagierte umgehend
Vor de Wattevilles Intervention hatte das BFM die Asylgesuche behandelt, wie dem «Fact Sheet» zu entnehmen ist, hatte aber wegen der Menge ungenannte «flankierende Massnahmen» geplant.
Postwendend auf de Wattevilles Brief wies die BFM- Geschäftsleitung die Botschaften in Kairo und Damaskus an, die eingereichten Asylgesuche von Irakern «vorderhand» nicht mehr zu behandeln. Die Gesuche sollten erst gar nicht mehr nach Bern weitergeleitet und die Flüchtlinge an das UNHCR verwiesen werden. Erst ab Anfang 2010 wurden solche Gesuche - die alten wie neue - wieder behandelt.
Nicht rechtmässig
Der Bund hat damit geltendes Recht verletzt. Die Schweiz sei gemäss aktueller Rechtslage verpflichtet, in Botschaften Asylgesuche entgegenzunehmen und zu behandeln, sagte die Chefin des Schweizer UNHCR-Büros, Susin Park.
Diese Meinung teilt Völkerrechtsprofessorin Martina Caroni: «Es gibt einen zentralen verwaltungsrechtlichen Grundsatz, in dem verfassungsrechtlich garantiert ist, dass keine Rechtsverweigerung sein darf», sagte sie «10vor10». Dies bedeute, dass jedes Begehren an eine Behörde behandelt werden müsse. Gemäss Caroni gibt es im Asylgesetz keine Vorschrift, in welcher Form ein Asylgesuch gestellt werden muss. «Gemäss Gesetz ist jede Äusserung, dass jemand um Asyl bittet – auch mündlich – ein Gesuch, das behandelt werden muss», sagte Caroni der sda.
Diese Position sei auch die Haltung der Kommission für Migrationsfragen, die den Bundesrat berät. Caroni ist dort Mitglied. Auch das BFM war sich gemäss «Fact Sheet» bewusst, das die Schubladisierung der Asylgesuche «rechtlich problematisch» war.
Zwei Chefwechsel nötig
Bis die Affäre zu Tage kam, brauchte es im Justizdepartment zwei Wechsel auf dem Chefposten. Erst am Mittwoch informierte Justizministerin Simonetta Sommaruga die Öffentlichkeit.
Ihre Vorgängerin, die heutige Finanzministerin Eveline Widmer- Schlumpf, und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey haben nach Angaben Sommarugas nichts von den Vorgängen gewusst. Gemäss dem BFM wurde auch Bundesrat Christoph Blocher, in dessen Amtszeit der Entscheid fiel, über das «geänderte Vorgehen nicht offiziell informiert».
Blocher: «Ich habe das abgesegnet»
Christoph Blocher seinerseits erklärte in einem Interview mit der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens, es sei vom BFM «nach oben orientiert» worden. Und: «Ich habe das abgesegnet.» Es habe sich nicht um formelle Asylgesuche gehandelt. «Diese Leute wollten einfach in die Schweiz, kein einziger Flüchtling war darunter.» Man habe ja dann «eine sehr praktikable Lösung» gefunden.
Sommaruga kündigte eine externe Untersuchung an, die unter anderem abklären soll, ob Recht verletzt wurde. Dieses Recht soll nach den Plänen des Bundesrates aber geändert werden. Im Mai 2010 hatte er in der Botschaft zur Teilrevision des Asylgesetzes unter anderem vorgeschlagen, die Möglichkeit von Asylgesuchen in Botschaften abzuschaffen.
Nach Angaben des Justizdepartements nahm die Schweiz zwischen 2006 und heute 43 Iraker auf, die im Ausland ein Asylgesuch gestellt hatten. Allerdings war darunter kein Gesuch aus Syrien oder Ägypten, wie bereits Sommaruga erklärt hatte.
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