
Das Virus kennt keine Grenzen, mischt sich in alle Länder und bei allen Menschen ein. Plötzlich erschrecken wir, dass global eben grenzenlos ist, alle Kulturen rund um den Erdball erfasst, egal ob reich oder arm. Unsere auf weltumspannendes Wirtschaften ausgerichteten Gesellschaftsmodelle werden teilweise an den Rand des Kollapses gebracht, sobald Überraschendes eintritt. Die letzte Krise, oder wie man so schön sagt, das Auftauchen des letzten «Schwarzen Schwans» ist erst zwölf Jahre her, die Probleme der Finanzkrise schienen gelöst, die globale Party durfte mit noch höherer Intensität weitergehen. Wirtschaftswachstum, rasant steigende Aktienmärkte, steigender Reichtum, allerdings einseitig verteilt, versprechen uns Sonnenschein, sofern man auf der Sonnenseite lebt. Mahnende Zeichen werden, weshalb auch immer, gerne übersehen: wachsender Populismus statt Leadership auch in westlichen Demokratien, ungelöste Flüchtlingskrise, faktische Klimakrise, schleichende Wertekrise etc.
Plötzlich wird das auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtete Mantra vom globalen Denken und Handeln oder das Predigen einer libertären, nicht wirklich liberalen Wirtschaftsordnung von den gleichen Kräften ohne Bedenken wegen Stressuntauglichkeit weggewischt. Plötzlich bezeichnen sich Unternehmen als systemrelevant, die jahrelang mit Tiefstpreisen mittlere und kleine Firmen vom Markt gedrängt und/oder regelmässig hohe Dividenden ausgeschüttet haben. Landesgrenzen werden hochgezogen, Solidarität, sei es in der EU oder den USA, existiert höchstens noch auf dem Papier, kurzfristige Panik verdrängt die längerfristige Perspektive. Offenbar leben wir in einem Gesellschaftsmodell, das nur bei wolkenlosem Sonnenschein funktioniert.
Ich wünsche mir, dass unsere Regierungen und die vom Volk gewählten Parlamentarier ihre Verantwortung in der Krise erst recht wahrnehmen und relevante Stellschrauben so justieren, dass Jung und Alt, Unternehmung und Individuum eine positive Zukunftsperspektive erkennen.
1. In Krisenzeiten muss die Exekutive führen und rasche Entscheide treffen. Unsere Regierung handelt hier vorbildlich. Die Legislative muss ihre Aufsichtspflicht ausüben und die mittelfristige (strategische) Steuerung unserer Gesellschaft ohne «Wenn und Aber» wahrnehmen. Parlamentarische Sessionen in Krisensituationen abzubrechen oder ausfallen zu lassen widerspricht einer korrekten Amtsführung. Das Argument der erhöhten Ansteckungsgefahr ist paradox: Die Armee bleibt auch nicht in der Kaserne, wenn sie in einen Konflikt eingreifen müsste, die Polizei geht auch in den Einsatz, wenn die öffentliche Ordnung (zum Beispiel bei einem Fussballmatch) gefährdet ist! Öffentliche Ämter bringen Würde, beinhalten aber auch Risiken. Wer nicht bereit ist, solche Risiken zu akzeptieren, ist am falschen Ort und sollte das Mandat lieber weitergeben.
2. Der Markt richtet eben nicht alles, die Globalität hat Schranken. Die Sicherstellung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sicherheit der Nationalstaaten verlangt auch nationales, regionales und lokales Denken. Die aktuelle Schliessung der Grenzen in der westlichen Welt beweist, dass das Mantra des ausschliesslich globalen Denkens nicht nachhaltig sein kann.
3. Die Finanzspritzen von Bund und Kantonen für alle Bereiche unserer Gesellschaft zeigen eindrücklich, dass Solidarität für die nachhaltige Prosperität und den gesellschaftlichen Frieden unabdingbar ist. Nehmen wir uns dies zum Vorbild, investieren wir doch künftig in Unternehmen in der Nähe, verzichten wir auf den Einkaufstourismus, unterstützen wir lokale Produzenten und (Frei-)Schaffende aus Überzeugung.
4. Nur gesunde Unternehmen können unsere Jugend ausbilden und beschäftigen und so nebenbei auch unsere Sozialwerke alimentieren. Zeigen wir Solidarität mit der jungen Generation, indem wir eben hierzulande unser Geld ausgeben und nicht Billigwaren und Dienstleistungen aus dem Ausland einkaufen.
5. Schieben wir einen Riegel gegenüber den Unternehmen, die unser Wirtschaftssystem missbrauchen wollen. Firmen, die hohe Dividenden ausschütten, permanent übertriebene Entschädigungen an das Management zahlen, sollen in den eigenen Kreisen, also bei ihren Investoren, nach Unterstützung Ausschau halten und nicht beim Staat betteln.
6. Ziehen wir deshalb aus der Corona-Krise die richtigen Schlüsse, damit der nächste «Schwarze Schwan» nicht noch stärker zuschlägt. Verschliessen wir nicht die Augen, bis er vor uns schwimmt, reagieren wir rechtzeitig. Die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und die klimatischen Veränderungen können wir heute schon berechnen und eine Prognose für die Zukunft erstellen. Die Wissenschaft sollte für unser künftiges Handeln auch in diesen Fragen einen höheren Stellenwert bekommen als populistische Politiker in West und Ost. Also handeln wir im Sinn einer gesunden Zukunft für Wirtschaft und Gesellschaft schon jetzt und nicht erst morgen.
7. Das Coronavirus ist für die Betroffenen schrecklich, bringt Leid über viele Familien, dies macht uns betroffen. – Die aktuelle Situation ist aber auch eine grosse Chance, die heutigen Strukturen und das Selbstverständnis unseres Wirtschaftsmodells und des gesellschaftlichen Zusammenlebens umfassend zu hinterfragen und Änderungen zum Wohl einer langfristigen Prosperität aller in der Schweiz wohnhaften Bürger mit Priorität anzupacken. Unser politisches System der Konkordanzdemokratie bietet dafür den idealen Rahmen für breit abgestützte Massnahmen.
Beat Oberlin, Präsident des Universitätsrats
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Gastbeitrag zur Zeit nach Corona – Chance für eine nachhaltigere Zukunft
Ein kleines Virus, lieblich Corona (Kranz) genannt, demonstriert eindrücklich, was global effektiv heisst.