Corona in EnglandBoris Johnson wählt eine Hochrisiko-Strategie
Der Premierminister verkündet das Ende aller Corona-Restriktionen in England – trotz rapide steigender Fallzahlen und Sorge um die Delta-Mutation. Kann das gut gehen?

Trotz eines rapiden Anstiegs der Infektionszahlen im Vereinigten Königreich und vielfacher Warnungen erhebt die Regierung in London keine Einwände gegen den Aufmarsch von jeweils 60’000 Fussball-Fans bei den letzten EM-Spielen im Wembley-Stadion heute Abend, Mittwoch und Sonntag dieser Woche. Dabei ist Wembley nur der Anfang: Boris Johnson will kurz nach Ablauf des Turniers sogar für ein Ende fast aller Covid-Restriktionen sorgen. Man müsse endlich lernen, «mit dem Virus zu leben», hat Premierminister Boris Johnson dazu erklärt.
Am 19. Juli, acht Tage nach dem EM-Endspiel, sollen in England so gut wie alle gesetzlichen Restriktionen fallen, die bisher noch gelten. Von da an – vom «Tag der Freiheit» an, wie ihn die Londoner Boulevardpresse getauft hat – soll niemand mehr von Staats wegen zum Maskentragen oder zur Einhaltung von sozialer Distanz verpflichtet sein. Generell soll es keine Auflagen bei Zusammenkünften mehr geben, und Gaststätten und Pubs sollen frei operieren können und nicht mehr zur Aufnahme von Personalien gezwungen werden. Geimpfte Personen sollen alle Selbstisolation und Quarantäne vermeiden können. Schulkinder sollen nicht mehr «auf blossen Verdacht hin» nach Hause geschickt werden. Hunderte von Vorschriften sollen entfallen.
Warnung aus Schottland
Ein endgültiger Beschluss wird am nächsten Montag gefasst. Im Grunde, klagt der prominente Covid-Experte Professor Stephen Reicher in diesem Zusammenhang, habe die Regierung schon mit der Zulassung von 60’000 Zuschauern fürs Wembley-Stadion «60 Millionen Fans daheim signalisiert, dass keine Gefahr mehr besteht», dass die Covid-Krise vorbei sei im Königreich. Dabei hatten die schottischen Gesundheitsbehörden erst vor ein paar Tagen gemeldet, dass rund 2000 schottische Fussball-Fans sich – und gewiss auch zahllose andere – im Zusammenhang mit der EM angesteckt hatten. Allein 15 Prozent des schottischen Fankontingents im Wembley, beim Spiel England gegen Schottland am 18. Juni, wurden nach der Partie positiv getestet.
Viele andere infizierten sich offensichtlich in Pubs, bei Zusammenkünften mit Freunden daheim oder bei anschliessenden Feiern allerorten. Solche Zusammenkünfte, warnten Wissenschaftler gestern erneut, im Blick auf die drei übrigen EM-Spiele, könnten sich als «die reinsten Super-Spreader» erweisen. Auch WHO-Sprecher, EU-Parlamentarier und letzten Freitag bei einem Besuch in England Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten sich wegen der Wembley-Spiele «zutiefst besorgt» gezeigt. Fans überall im Lande sollten sich die Spiele, auch bei zweifelhaftem Wetter, besser «im Freien anschauen», appellierte die medizinische Chefin der englischen Gesundheitsbehörde, Yvonne Doyle, an die Fussball-Gemeinde.
Die Menschen wollen feiern
Viele jüngere Briten halten sich aber an die Versicherung des Premierministers, dass die Verbindung zwischen Infektionen und ernsten Erkrankungen dank der umfassenden Impfaktion in Grossbritannien weitgehend erfolgreich «unterbrochen» worden ist. Für Hunderttausende von Menschen in England bilden die Euro, der bisherige Siegeszug des nationalen Teams und der (zögerlich einsetzende) Sommer eine lang ersehnte Abwechslung nach Monaten oft harscher Restriktionen.
Auch Wimbledon ist wieder voll in Betrieb, und andere grosse Sportveranstaltungen sind geplant, wie der Rennsport-Grand-Prix von Silverstone noch in diesem Monat, zu dem 140’000 Zuschauer erwartet werden. Für die Regierung waren diese Veranstaltungen bisher «sorgsam kontrollierte Forschungsprojekte» im Rahmen der Wiedereröffnung der Gesellschaft. Schon in den letzten Wochen haben aber auch im Alltag immer mehr Menschen in England Vorsichtsmassnahmen in den Wind geschlagen, um zu grösserer «Normalität» zurückzukehren.
«Genug ist genug»
Nach den EM-Triumphen Englands über Deutschland und die Ukraine wurde vielerorts die Nacht hindurch gefeiert. Und vor einer Woche sind Tausende von Demonstranten durch die Strassen Londons gezogen im Protest gegen alle weitere «Einschränkung unserer Freiheit» – unter dem Motto: «Genug ist genug». Jüngsten Umfragen zufolge halten sechs von zehn Briten es für richtig, dass der 19. Juli nun zum «Endstations-Datum» für den Lockdown werden soll, wie es Premier Johnson formuliert hat.

Das angekündigte schlagartige Ende des Lockdown hat heute auch scharfe Kritik hervorgerufen. Besorgte Forscher, Politiker und Gewerkschafter verweisen darauf, dass die Infektionszahlen, dank Delta-Variante, zuletzt von Woche zu Woche um 72 Prozent gestiegen sind. Auch die Zahl der Covid-Patienten in den Spitälern nimmt neuerdings wieder zu, auch wenn sie mit rund 2000 noch sehr viel niedriger liegt als beim Höchststand der letzten Welle, im Januar und Februar.
An täglichen Neuinfektionen sind am Montag über 27’000 gemeldet worden. Im August, räumte Gesundheitsminister Sajit Javid am Dienstag ein, könnten es jeden Tag um die 100’000 sein. Verschwunden sei das Virus jedenfalls nicht, meint etwa Professor Lawrence Young von der Universität Warwick. Noch immer sei die Hälfte der Gesamtbevölkerung nicht vollständig geimpft. Ein weiterer Anstieg der Erkrankungen stehe zu befürchten, Langzeit-Covid auch bei jüngeren Menschen, die Herausbildung neuer, gefährlicher Varianten.
«Es sieht so aus, als seien wir das erste Land, das alles mit Wucht gegen die Impf-Schutzmauer schleudert – in der Hoffnung, dass sie hält.»
Jetzt auf Vorsichtsmassnahmen zu verzichten, formuliert es Youngs Londoner Kollegin Susan Michie, das sei, als stelle man sich «Produktionsstätten für neue Varianten in den Hinterhof». «Alles deutet darauf hin, dass die Regierung dem Virus freie Bahn lassen will, ungeachtet Long Covid, Mutationschancen und begrenzter Klinik-Kapazität», meint auch Youngs Kollegin Christine Pagel vom University College London. «Es sieht so aus, als seien wir das erste Land, das alles mit Wucht gegen die Impf-Schutzmauer schleudert – in der Hoffnung, dass sie hält.»
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