«Blut zu sehen, gehört zu meinem Beruf»
Um das Leben von verwundeten Rebellen zu retten, setzt er sein eigenes aufs Spiel: Bericht aus dem Alltag eines Arztes, der in Aleppo unter widrigsten Bedingungen arbeitet. Und dabei unentdeckt bleiben muss.
Vor einer Woche noch spielte der britisch-syrische Arzt Abu Schamel zu Hause in Manchester mit seinem kleinen Sohn. Jetzt hockt er an einer Strassenecke der nordsyrischen Stadt Aleppo und verarztet einen angeschossenen und vor Schmerzen schreienden Mann.
Um ihn herum tobt der Strassenkampf, im Hintergrund hallt das Echo der Explosionen. Kämpfer haben den Mann aus dem zerstörten Stadtteil Salaheddin geborgen. Ein paar Meter entfernt legen sie ihn auf eine schwarze Matratze und machen die Wunde am Gesäss frei. Eilig entfernt der Arzt die Kugel, legt einen Verband an und schickt den verwundeten Mann in eines der geheimen Feldlazarette.
«Wir sind alle Terroristen», sagt der Arzt
Auf Menschen wie Abu Schamel sind die syrischen Rebellen dringend angewiesen, seitdem vor zwei Wochen die Kämpfe in Syriens grösster Stadt ausbrachen. Der 37-jährige Arzt spricht fliessend Arabisch und Englisch. Als er hörte, dass es an Ärzten fehle, die die verwundeten Rebellen versorgen, verliess er mit zwei Kollegen die englische Heimat.
Wie alle Mediziner, die die syrischen Aufständischen unterstützen, meidet er die staatlichen Spitäler. «Ärzte schicken die Kämpfer und Zivilisten nicht in öffentliche Spitäler, und die Zivilisten würden es auch nicht wagen, selbst dort hinzugehen», sagt Abu Schamel. «Wenn da jemand mit einer Schusswunde auftaucht, heisst das, er kommt aus Salaheddin oder Umgebung und das bedeutet, er ist Terrorist. Wir sind alle Terroristen», sagt er bitter lachend.
Erste-Hilfe-Kurs und Granaten
Während um ihn herum Mörsergranaten explodieren, erklärt der Arzt sechs Rebellen in Kampfanzügen und mit Sturmgewehren ausgerüstet, wie sie ihren verwundeten Kameraden Erste Hilfe leisten. Er verteilt Päckchen mit Verbandszeug und blutstillenden Kompressen.
«Wir haben Dutzende dieser Erste-Hilfe-Päckchen mitgebracht, um sie hier zu verteilen. Den Inhalt haben wir mit Spenden gekauft, die wir von Kollegen und Freunden in Manchester gesammelt haben», erklärt er.
Als Abu Schamel in Syrien ankam, war er schockiert über die Zahl der Zivilisten, die im Kugelhagel verwundet wurden. Er sah Kinder mit Verletzungen an Kopf, Brust und Bauch, die aus einstürzenden Häusern flohen. «Ich bin Chirurg, und Blut zu sehen, gehört zu meinem Beruf, aber was ich hier sehe, bringt auch mich zum weinen», sagt der Arzt.
Dutzende versteckte Lazarette
Die Mediziner haben in Aleppo Dutzende versteckter Lazarette eingerichtet, besonders im Stadtteil Salaheddin, wo die Kämpfe am heftigsten toben. Die genaue Lage der Lazarette wird geheimgehalten, um sie vor der syrischen Armee zu schützen. Auch die meisten Ärzte wollen unerkannt bleiben.
Weil Medizin und Geräte knapp sind, können sie schwer verwundeten Menschen meist nur Erste Hilfe leisten. Dann versuchen sie, die Verletzten über die benachbarte Grenze in die Türkei zu bringen, um sie dort weiter behandeln zu lassen.
Der beissende Geruch des Desinfektionsmittels schwängert die Luft in einem der Lazarette. Ein Arzt in grünem OP-Kittel behandelt ein neunjähriges Mädchen, das von einer Kugel in den Bauch getroffen wurde. Die Füsse des Mädchens zittern ein wenig, als der Arzt die Wunde säubert und den Verband anlegt.
Mit Alkohol gesäubert, mit Feuer sterilisiert
Irgendwo in einer der muffigen Notunterkünfte sitzt Abu Schamel. 15 Verwundete werden hier jeden Tag versorgt. Tagelang mussten sie ohne Strom auskommen. Es fehlt an allem, die Wunden werden mit Alkohol gesäubert, die chirurgischen Geräte müssen notdürftig im Feuer sterilisiert werden.
«Wir sind gezwungen, an Orten wie diesen zu arbeiten, kaum geschützt vor dem Schussfeuer und den Explosionen», erklärt er. «Warum versucht die Regierung, diese Menschen anzugreifen? Weil sie arm sind? Oder weil sie mit den Rebellen sympathisieren?»
In einem leeren Einkaufsladen, der von den Rebellen gewaltsam geöffnet wurde, sitzt ein anderer Arzt allein in einem düsteren Raum. «Manchmal frage ich mich, warum ich das mache», sagt der Arzt. «Ich habe grosse Angst um mich, aber ich kann nicht anders, es ist meine Pflicht. Ich muss helfen, so gut ich kann.»
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