Bleibt der Biss?
Yasmina Reza ist die Spezialistin für Krisen in der Lebensmitte. In «Anne-Marie die Schönheit» wagt sie sich nun an eine richtig alte Schauspielerin.

Da hat man sich zum Kauf einer elektronischen Waage entschlossen, weil man abnehmen sollte, und trifft auf derselben Etage auf die Gläser mit den leckeren Cashew-Nüssen im Trüffelöl. Das Streben nach dem richtigen, sinnvollen Leben ist bei der französischen Theater- und Romanautorin Yasmina Reza immer in banale Situationen gebettet, und das lange Reden darüber hat den Nachgeschmack von rhetorischem Naschwerk. Als wären die Figuren dieser Autorin regelrecht süchtig nach den Worthäppchen ihrer ausufernden Dauerkonversation.
Anne-Marie, die Titelheldin des neuen Buchs, das ein Roman ist und zugleich ein langer Bühnenmonolog, ist auf diesem Weg schon weit in die Jahre gekommen und redet doch munter weiter. Ihr Mann, ihr Hausarzt, ihr Agent, ihre Nachbarn und auch ihre einstige Berufskollegin, die erfolgreiche Schauspielerin Giselle Fayolle, sind bereits alle tot. «Wenn man sie am ehesten brauchen würde, machen sie sich aus dem Staub», murrt die alte Dame.
Ihr ist aber genug Lebensenergie geblieben, um in einem langen Monolog noch einmal über ihre Theaterkarriere, ihre Kindheit im nordfranzösischen Saint-Sourd, ihre Anfänge am Pariser Théâtre de Clichy, ihr Verhältnis zu Giselle Fayolle, über ihre Traumrollen, das Altern, das Nahen des Todes und über das Anrühren von Schönheitsmasken aus Auberginen und Karotten zu referieren.
Auf den Spuren von Brigitte Bardot
Bei der sonst eher auf Midlife-Krisen spezialisierten Yasmina Reza haben wir es hier zum ersten Mal mit einer Figur im hohen Alter zu tun. Kann der beschwingt herbe Sprachstil von Rezas Personen überhaupt altern? Ja, er kann. Aber er verliert dabei seinen Biss.
Als junges Mädchen hatte Anne-Marie sich anhand von Zeitungsfotos die Schönheit Brigitte Bardots angeeignet und sich in die Person des Kinostars hineinfantasiert. Im Erwachsenenleben musste sie sich dann neben ihrer Kollegin Giselle Fayolle auf der Bühne mit bescheidenen Nebenrollen begnügen. Auf die gelegentlichen Liebesaffären der Jugendjahre folgte das Eheleben mit einem Mann, dem alles Unvorhergesehene ein Gräuel war - «hätte er im Zuchthaus gelebt, wäre er mit einem Programm von der Art 17h30 Elektroschock, 18h30 Folter zufrieden gewesen».
Bierdosen aus dem Fenster werfen
Auch im Theateralltag ist der ursprüngliche Zauber trüb geworden, die glücklichen Zeiten sind lang vorbei. Damals steuerte die Welt noch keiner Katastrophe entgegen, «da konntest du noch problemlos eine Bierdose aus dem Fenster werfen». Das bisschen Glück im Leben war ihr zu kurz und das sich drehende Rad des Schicksals ein Schreckensbild: «Am Anfang gehörst du zu den kleinen Leuten, und am Ende auch wieder.»
So viel offene Einfühlung in eine Figur hat Yasmina Reza noch selten gezeigt. Die mitgelieferten Ansätze einer soziologischen Milieuskizze zu Anne-Maries Herkunft und Kindheit hingegen sind unscharf und bleiben anekdotisch. Yasmina Rezas Figuren brauchen keine Vorgeschichte, sie wirken am besten in ihren jeweiligen Augenblickslaunen. Die deutsche Übersetzung des Texts ist zwar in einzelnen Formulierungen durch die Nähe zum französischen Original nicht immer auf Anhieb verständlich, federt aber elegant im Rhythmus der Launen und trifft den leisen Unterton, in dem der Humor Yasmina Rezas üppig nachschäumt.

Yasmina Reza: Anne-Marie die Schönheit. Roman. aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, München 2019. 80 S., ca. 24 Fr.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch