Medienphänomen LivetickerBitte aktualisieren!
2020 war das Jahr der Liveticker. Über ein Format, das entschleunigt vom Ausnahmezustand berichtet.

Irgendwann wird vielleicht jemand einen Nachruf auf das Phänomen des Livetickers schreiben. Sie oder er wird wehmütig auf diese digitale und trotzdem sonderbar altmodische Form der Berichterstattung zurückblicken, die Informationen «live» verspricht, bei der man aber regelmässig auf «aktualisieren» klicken muss, um die neuesten Meldungen abzurufen. Man hechelt ewig hinterher, hält den Atem an, während die Seite neu lädt. Ist das Tor schon gefallen? Die Entscheidung über den Brexit durch? Joe Biden neuer Präsident? Dabei stellt sich eine sonderbare, süchtig machende Seligkeit ein.
Will man diesem Gefühl auf den Grund gehen, muss man sich anschauen, wie Menschen Nachrichten im Netz konsumieren. Sie scrollen meist durch einen automatischen Newsfeed. Die Finger und Mauszeiger gleiten sanft über das Weltgeschehen hinweg, was sich, weil man es im eigenen Tempo tut, anfangs wie Kontrolle anfühlt, dann aber, je weiter man scrollt, zunehmend ins Gegenteil umschlägt, denn Nachrichtenfeeds haben kein Ende. Es werden nur immer neue Inhalte am unteren Bildschirmrand geladen. Stets verpasst man möglicherweise Wichtiges.
Dieses Gefühl, in einem ewigen Nachrichtenschlauch aus Schrecklichkeiten zu stecken, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die Digitalkonzerne hinter den Newsfeeds verdienen gut daran, dass ihre Nutzer das Gefühl haben, die Welt nicht mehr zu verstehen und sich immer noch weiter informieren zu müssen. Sie erzählen eine sich mithilfe von Algorithmen selbst fortschreibende Geschichte über die Gegenwart, der sie praktisch nie etwas wirklich Überraschendes hinzufügen, denn die Nachrichten sollen den Erwartungen des Nutzers entsprechen. Wodurch sich die Gegenwart, die niemals endet, immer unbestimmter und bedrohlicher anfühlt. Anfang des Jahres etablierte sich im Netz der Begriff des «Doomscrolling» für dieses Gefühl, in einem ewigen Nachrichtenschlauch aus Schrecklichkeiten zu stecken, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die roten Lämpchen leuchten warnend
Liveticker sind, trotz ihres Versprechens atemloser Dringlichkeit, Entschleunigung pur. Als sie aufkamen, ersetzten sie in der Sportberichterstattung die Dynamik aufgeregt dauerquasselnder Kommentatoren in Radio und Fernsehen durch den gemächlichen Minutentakt eintröpfelnder Meldungen. Später taten sie dasselbe mit politischen Grossereignissen.
Mit einem Liveticker ist man auf dem neuesten Stand, ohne dass sich der neueste Stand von selbst fortschreibt. Wenn man auf «aktualisieren» klickt, erscheint ganz oben die wichtigste Neuigkeit zum Thema – oder eben auch nicht, wenn es nichts Neues zu berichten gibt. Dann herrscht Ruhe im Kanal.
Gleichzeitig vermitteln Liveticker die gespannte Erwartung, dass «es» jederzeit hereinbrechen kann. Wie ein Alarmlämpchen leuchtet das rote Live-Symbol. Wann ist es so weit? Alles ist auf das am Horizont heraufziehende Ereignis ausgerichtet. Niemand weiss, wann der grosse Knall kommt. Jedes Mal, wenn man «aktualisiert», schaufelt man neue Gegenwart ins System. «Refresh» heisst die Funktion auf Englisch.

Nun geht ein eigenartiges Jahr zu Ende, das damit begonnen hat, dass die Welt wie gebannt Infektionszahlen aktualisierte. Viele Medien richteten Liveticker ein, die über neueste epidemische und politische Entwicklungen informierten. Die Zeit schien suspendiert, alles war in der Schwebe und ist es noch immer. Ausgangssperren wurden verhängt, mal eben zentrale volkswirtschaftliche Paradigmen über Bord geworfen. Undenkbares wurde denkbar. Zur US-Wahl aktualisierte man Auszählungsergebnisse. Und vor den Gebäuden, in denen die Stimmen ausgezählt wurden, standen Menschen, die «Stop the Count!» riefen.
Liveticker halten, so könnte man sagen, der Welt den Atem an, um vom Neuen zu künden. Ihre roten Lämpchen leuchteten viel in diesem Jahr. Alles schien möglich, während die Gegenwart immer wieder ihre Synchronizität mit sich selbst verlor. So viel Dialektik! Halb fürchtet man sich, halb sehnt man sich danach, dass die neue Gegenwart, welche auch immer es sei, endlich beginnen möge.
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