Nachruf auf SchriftstellerinAutorin Sibylle Lewitscharoff ist tot
Sibylle Lewitscharoff, Schriftstellerin, Büchnerpreisträgerin und lebenskluge Menschenerfinderin ist gestorben.

Die Laufbahn der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff war nicht lang. Sie begann Ende der Neunziger Jahre, mit der Erzählung «Pong», für die sie den Bachmann-Preis erhielt: Aus den Tiefen eines Berliner U-Bahnhofs sprach ein Halbverrückter und erklärte die Welt, wortmächtig und auf eine sorgfältig altertümliche, verschrobene Art. Mitte vierzig war die Autorin damals, und was sie auszeichnete, war nicht nur eine beinahe kindlich anmutende Freude im spielerisch-exakten Umgang mit der Sprache, sondern offenbar auch eine grosse literarische Bildung sowie ein hohes Mass an Lebenserfahrung: Aus einer trotzkistischen Kadergruppe in Stuttgart in die Buchhaltung einer Berliner Werbeagentur hatte sie der Lebensweg geführt, über Stationen in Buenos Aires und Paris, aus den Seminaren des Religionsphilosophen Jacob Taubes war sie in eine Dichtkunst geraten, die Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo ebenso viel verdankte wie den Songtexten der Doors. Wo es Literatur gebe, lehrte sie, da gebe es auch einen Wahn, ein Leiden und viele, mehr oder weniger hilflose Versuche, damit zurechtzukommen.
Sieben Romane veröffentlichte Sibylle Lewitscharoff in den gut zwanzig Jahren, die auf das kleine Buch «Pong» folgten, eine Suite, die mit «Montgomery», dem Roman eines deutschen Filmproduzenten in Rom (2003), begann und die mit «Von oben» (2019) endet, den Betrachtungen eines Toten, der auf sein Grab, sein Leben und seine Stadt (es ist Berlin) herabblickt. Jeder Teil von ihnen ähnelt in seiner Anlage den kleinen Zeichnungen, szenischen Objekten oder Scherenschnitten, die sie neben dem Schreiben herstellte: ein jedes eine Welt für sich, minutiös realistisch ausgestaltet, aber thematisch weit ausgreifend – und ein jeder von ihnen ein Forschungsunternehmen mit poetischen Mitteln.
Lewitscharoff schuf eine ganze Galerie von Partisanen wider die Einfalt der Vernunft
Ihre Helden waren dabei stets Verwandte des Herrn Pong: Plausible, intakte Gestalten, doch in überwacher Intelligenz standen sie stets ein wenig schräg zur Wirklichkeit, wie sie gewöhnlich verhandelt wird. Fest davon überzeugt, dass es kein bürgerliches Leben gäbe ohne einen langen Prozess der Eingewöhnung und Disziplinierung (und insofern ist eine treue Schülerin Michel Foucaults), schuf Sibylle Lewitscharoff eine ganze Galerie von Partisanen wider die Einfalt der Vernunft. Sie tat es in einer Sprache, die den surrealen Überschwang verband mit makelloser Präzision und einem Sinn für die Komik, die oft ausgerechnet den bedeutenden Ereignissen innewohnt.
Der einsame Deutschlehrer, der an einem Samstagmorgen in einem Stuttgarter Café sitzt und sich langsam betrinkt, während die grossen Verstorbenen seines Lebens als Geister über ihm schweben und den Fluss seiner Gedanken und Erinnerungen manchmal beflügeln und manchmal korrigieren, ist ein solcher Partisan. «Consummatus» heisst dieser Roman aus dem Jahr 2006, der in einem Zwischenreich zwischen dem Leben und dem Tod spielt, zwischen dem Heiligen und dem Profanen, mit dem Deutschlehrer als einem Orpheus, der mit beiden Seiten nicht zurechtkommt.
Das Buch «Apostoloff» erschien drei Jahre später, und auch wenn es eine offenbar autobiographisch geprägte Familiengeschichte erzählt, so ist auch dieses ein Gespräch mit dem Toten: Der Vater, ein aus Bulgarien nach Stuttgart immigrierter Frauenarzt, hat Selbstmord begangen. In einer Karawane aus schwarzen Limousinen wird seine Leiche nun ans Schwarze Meer zurückgebracht, begleitet von neunzehn Freunden und Verwandten. Auf dem Rücksitz eines solchen Automobils aber sitzt die Tochter, träumt, denkt an Politisches und Literarisches, hört die Stimme des Toten. Und wenn diese Dame als ein eher kompliziertes Wesen geschildert wird, manchmal zart und manchmal laut, manchmal bis ins Äusserste diskret und manchmal aufdringlich, manchmal von hellstem Verstand und manchmal überraschend tumb, so ahnt der Leser, dass er es hier mit einem Selbstporträt zu tun hat.
Auch das Wunder, erklärte sie, gehöre zur Literatur
Wenn Sibylle Lewitscharoff Menschen beschrieb, auch sich selbst, tat sie es mit einem scharfen Sinn für vage Momente und wechselnde Zustände. Ein Ich, hätte sie sagen können, ist sich selten gleich. Wenn es sich abends schlafen legt, ist es von anderer Beschaffenheit als beim morgendlichen Aufstehen. Es ist etwas Flüchtiges, Wankelmütiges, das von nichts Festem, sondern nur von einer Art Energie zusammengehalten wird. So heisst es über den Vater in «Apostoloff»: «In seinem Hirn gab es Löcher, da hinein sprang eine finstere Phantasie. Hauchdünne Blätter aus Nichts begannen in seinem Kopf zu rauschen.» Im Prinzip ähnlich, aber umgekehrt verhält es sich im Roman «Blumenberg» aus dem Jahr 2011, in dem der Löwe des heiligen Hieronymus – ein Attribut des Denkers und Gelehrten – aus der Fantasie des berühmten Philosophen tritt und sich in seinem Arbeitszimmer auf den Teppich legt. Auch das Wunder, erklärte sie, gehöre zur Literatur, von banalem Leben gebe es schliesslich anderswo genug.
Sibylle Lewitscharoff hatte Erfolg, bei den Lesern wie bei den Kritikern. Preise erhielt sie viele, darunter im Jahr 2013 den Büchner-Preis. Dennoch war es, als gehöre sie nicht ganz in diese Welt – sie bewahrte eine Reserve, in der man die Geschichte der Literatur vermuten konnte oder ein Religiosität (sie war evangelisch, hegte aber eine Leidenschaft für das Barocke) oder vielleicht auch eine Mischung von beidem. Hin und wieder kam es dann zu Unfällen, wenn aus dieser Reserve etwas hervorbrach, das ihr Publikum mit Grund vor den Kopf stiess. So war es im März 2014, als sie bei einer Rede in Dresden behauptete, aus einer Leihmutterschaft könnten allenfalls Halbwesen hervorgehen. Schnell bedauerte sie: Eine «Denkbremse» sei ihr dazwischengeraten, «Schleuderkurs, Crash, nichts geht mehr». Aber auch das gehörte zu ihr: sich fortreissen zu lassen, von einem nur scheinbar hellen Einfall, von einer scharfen Formulierung, und dann konnte sie davonstapfen, und ihre Zuhörer blickten ihr ein wenig ratlos hinterher. Bis sie zurückkehrte, reuevoll, und ihr Lachen konnte ansteckend sein.
Über solche und andere Unfälle, vorzüglich in der Literatur, dachte Sibylle Lewitscharoff in ihren Essays nach. Sie sind in mehreren Bänden publiziert, in «Der Dichter als Kind» (2009) zum Beispiel oder in «Vom Guten, Wahren und Schönen» (2012). Sie handeln von Schriftstellern, die ihr nahestanden, von Karl Philipp Moritz und Gottfried Keller zum Beispiel, von Thomas Bernhard und zuletzt von Dante. Immer wieder kehren darin scheinbar religiöse Themen wieder: die Schuld, das Streben nach Erlösung, der Tod. Fromm sind die Essays nicht. Eher geht es darin um existentielle Bedenken, die heimatlos geworden waren, nachdem die Religion ihre Deutungsmacht verloren hatte. In der Dichtung fanden sie ein Unterkommen. Sibylle Lewitscharoff fand sich in diesen Zweifeln wieder. Man solle einmal versuchen, sagte sie gelegentlich, eine Woche lang weder zu verachten noch sich selbst auf Kosten anderer zu erhöhen. Es sei beinahe unmöglich, diese Aufgabe zu erfüllen. Am Samstag starb Sibylle Lewitscharoff im Alter von 69 Jahren.
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