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22-jähriger Demonstrant in der Türkei erschossen
Bei gewalttätigen Protesten im Süden der Türkei wurde ein 22-Jähriger getötet. Noch ist unklar, wer auf ihn geschossen hat. In der Nacht eskalierten die Demonstrationen erneut.
Die türkischen Behörden haben bisher 29 Twitter-Nutzer festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, verräterische Informationen verbreitet zu haben. In Istanbul strömten wieder Tausende Menschen auf die Strasse.
Vertreter der Protestbewegung in der Türkei haben der Regierung eine Liste mit Forderungen der Demonstranten übergeben. Sie verlangten nach einem Treffen mit Vizeregierungschef Bülent Arinç unter anderem den Rücktritt von Polizeichefs, die Gewalt gegen Demonstranten angeordnet haben.
Eyüp Mumcu, ein Sprecher der Protestierenden, übergab Arinç die Liste mit den Forderungen gemeinsam mit anderen Vertretern der Zivilgesellschaft. Demnach verlangen sie neben den Rücktritten der Polizeichefs die Freilassung aller verhafteten Demonstranten sowie einen Stopp des geplanten Bauprojekts in Istanbul, an dem sich der Protest entzündet hatte. Zudem sollen die Sicherheitskräfte kein Tränengas mehr einsetzen. Die Antwort der Regierung werde über den Fortgang der Ereignisse entscheiden, sagte Mumcu, der der Architektenkammer von Istanbul angehört.
Erneut Tausende auf der Strasse
Am Dienstag hatte sich Arinç überraschend bei den während der Proteste verletzten Demonstranten entschuldigt. «Diese Entschuldigungen kommen doch nur, um den Schaden zu begrenzen und weil sie in die Enge getrieben sind», sagte ein Sprecher der Gewerkschaft Keks, die sich am Dienstag mit dem Protesten solidarisch erklärt und zu landesweiten Kundgebungen und Streiks aufgerufen hatte.
Am Mittwoch folgten Menschen in grosser Zahl dem gemeinsamen Aufruf der linksgerichteten Gewerkschaften Keks und Disk. In Istanbul näherten sich Tausende Demonstranten aus zwei Richtungen dem Taksim-Platz, dem Zentrum der seit Freitag anhaltenden Proteste, und schwenkten dabei rote und weisse Fahnen. Die Arbeitnehmerorganisationen Keks und Disk vertreten nach eigenen Angaben zusammen Hunderttausende Angestellte im privaten und öffentlichen Sektor.
Erdogan weilte am Mittwoch in Algerien und wird erst am Donnerstag von seiner viertägigen Auslandsreise zurück erwartet. Der Regierungschef hatte die Demonstranten als «Vandalen» bezeichnet und sich überzeugt gezeigt, der Protest werde bis zu seiner Heimkehr abgeebbt sein.
Am Mittwoch skandierten Demonstranten auf dem Taksim-Platz: «Die Vandalen sind hier! Wo ist Tayyip?» Tagsüber war die Stimmung gelöst. Selbst sonst bis aufs Blut verfeindete Fans der Fussballvereine Galatasaray, Besiktas und Fenerbahce stehen bei dem Protest gegen Erdogan friedlich Seite an Seite.
29 Twitter-Nutzer festgenommen
In der Nacht auf Mittwoch war es in mehreren Städten erneut zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. In Ankara und Istanbul setzten die Sicherheitskräfte ungeachtet der internationalen Kritik abermals Wasserwerfer und Tränengas ein. In Izmir wurden nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu 29 Menschen festgenommen. Demnach werfen ihnen die Behörden vor, über den Kurznachrichtendienst Twitter «verräterische und verleumderische Informationen» verbreitet zu haben.
Landesweit wurden während der Proteste zwei Menschen getötet und mindestens 2000 verletzt. Die Regierung in Ankara gibt die Zahl der Verletzten mit etwa 300 an. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, wiederholte am Mittwoch seinen Appell an die Türkei, die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu respektieren. Ein Sprecher des Aussenministeriums ergänzte, Berlin stehe in engem Kontakt mit der Regierung in Ankara.
Die meisten Teilnehmer an den landesweiten Demonstrationen in der Türkei sind einer Internet-Umfrage zufolge jung, unorganisiert und wütend auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Zwei Wissenschaftler der Bilgi Universität in Istanbul, Zehra Kafkasli und Ercan Bilgic, hatten am 3. und 4. Juni insgesamt 3000 Demonstranten online nach ihren Motiven gefragt und die Ergebnisse anschliessend veröffentlicht.
Nach ersten Ergebnissen sieht sich der überwiegende Teil der Befragten (70 Prozent) keiner politischen Partei zugehörig - weder als Mitglied, noch als Unterstützer. Knapp 40 Prozent seien im Alter zwischen 19 und 25 Jahren, 24 Prozent zwischen 26 und 30 Jahren.
Rund 76 Prozent gaben an, aktiv an den Protesten beteiligt zu sein, etwa 54 Prozent betonten dabei, davor noch nie an Massendemonstrationen teilgenommen zu haben.
Gegen Erdogans Regierungsstil
Zu den wichtigsten Gründen, auf die Strasse zu gehen, gehörten den Angaben nach Erdogans autoritärer Regierungsstil (92,4 Prozent), die Polizeigewalt (91,3 Prozent), der Angriff auf demokratische Rechte (91,1 Prozent) und das Schweigen der türkischen Medien (84,2 Prozent). Die geplante Abholzung von Bäumen im Istanbuler Gezi-Park war für (56,2 Prozent) ein wichtiger Anlass zum Protest.
Der Grossteil der Demonstranten beschrieb sich als individualistisch oder säkular. Eine kleine Minderheit wünscht sich laut Umfrage einen Militärputsch, doch knapp 80 Prozent waren dagegen.(sda)
AFP
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