Die «Was wäre, wenn?»-Frage
In Grossbritannien wird ernsthaft über den EU-Austritt diskutiert. Annähernd die Hälfte der konservativen Tory-Fraktion soll diese Meinung bereits teilen.

Bisher war es eine spekulative Frage in Grossbritannien: Wäre es denkbar, dass man die EU verliesse? Selbst im Lager der Euroskeptiker war man sich nie ganz einig, ob es das Richtige wäre, glattweg den Austritt aus der Europäischen Union zu verlangen. Einige Skeptiker forderten stattdessen, London müsse die britische Sonderrolle in der EU stärken und Brüssel Befugnisse abtrotzen. Das war auch mehr oder weniger die Position der Tory-Parteispitze um David Cameron.
Cameron mochte sich an der EU-Integration nicht beteiligen, wollte aber in der Union weiter mit dabei sein. Austritt war, schon aus Handelsgründen, nicht vorgesehen. In diesem Frühjahr aber beginnt sich die Lage zu ändern. Prominente Tories haben begonnen, die Möglichkeit einer Lockerung der EU-Bande überhaupt anzuzweifeln. Nur die radikale Trennung vom Kontinent könne Britannien retten, argumentieren sie.
Nein mit guten Chancen im Volk
Laut der Londoner «Times» soll annähernd die Hälfte der konservativen Fraktion diese Meinung bereits teilen. Die Forderung nach einer Volksabstimmung ohne Wenn und Aber ist virulent. In der Bevölkerung hätte laut allen Umfragen ein Nein zur weiteren Mitgliedschaft gute Chancen. Den Druck in diese Richtung wollen die EU-Gegner in Camerons Partei diese Woche mit einem Schauspiel ganz besonderer Art verstärken. Sie planen eine Unterhausdebatte, bei der Cameron dafür gerügt werden soll, dass seine Regierungserklärung der Vorwoche (noch) keine Gesetzesvorlage für ein EU-Referendum enthielt.
Schneller, als er selbst damit gerechnet hat, ist David Camerons taktisches Kalkül zerstört worden. Der Regierungschef hatte die Referendumsforderung ins nächste konservative Wahlprogramm aufnehmen wollen. Sollte er 2015 die Wahlen gewinnen, wollte er mit der EU «Reformen» unbestimmter Art aushandeln. 2017 sollte dann das Volk zum Ergebnis der Verhandlungen befragt werden.
Die Eurokrise hat Verunsicherung geschaffen und alte Ressentiments gegen die EU neu geweckt
Nun aber haben die Tory-Veteranen früherer Europaschlachten mit ihrem Spott über «illusionäre» Hoffnungen auf EU-Zugeständnisse seine Rechnung durchkreuzt. Bis 2017 zu warten, sei lächerlich, finden immer mehr Konservative. Jetzt, ohne weiteres Zögern, müsse man die Stimmung im Lande nutzen. Und am besten gleich ein Referendum aufs Programm setzen. Oder wenigstens per Gesetz die nächste Regierung auf eines verpflichten.
Zwei Entwicklungen sind dafür verantwortlich zu machen, dass die EU-Frage plötzlich eine solche Dringlichkeit erhalten hat im Königreich. Die eine ist natürlich die Eurokrise. Sie hat Verunsicherung geschaffen, alte Ressentiments gegen die EU neu geweckt, der Rechtspresse Gelegenheit zu frischen Attacken gegen «Europa» gegeben – aber auch schwere Mängel im demokratischen Gefüge der EU freigelegt.
Die andere Entwicklung ist der Aufstieg der britischen Unabhängigkeits-Partei Ukip, der neuen Protestbewegung gegen EU und «Einwanderschwemme» aus Osteuropa. Die Ukip-Popularität macht vor allem den Konservativen zu schaffen. Sie hat die Cameron-Kritik innerhalb der Tory-Partei erst richtig auf Touren gebracht und zwingt den Regierungschef zu immer neuen Kompromissen.
Hält Cameron den Druck aus?
Ausgerechnet Cameron, kein sonderlicher Freund der EU, steht nun zwischen Grossbritanniens EU-Mitgliedschaft und den sich sammelnden Kräften, die das Königreich aus der Union zerren wollen. Ob Cameron diesem Druck nachgeben wird oder sich ihm zu widersetzen wagt: Davon hängt im Wesentlichen ab, wie weit sein Land sich auf den Exit zubewegt.
Dass sich die Briten «keine jahrelange Ungewissheit» erlauben können, wird ihnen von den Wirtschaftsführern dringlich nahegelegt. Schon schlagen sich Politiker und Kommentatoren die «Was wäre, wenn?»-Frage um die Ohren. Ohne EU-Bande wäre Grossbritannien in allem viel besser dran, beteuern die EU-Gegner. Ausserhalb der EU gefährde das Land Milliarden an Investitionen, seine Spitzenposition als Finanzplatz und seinen Einfluss auf der internationalen Bühne, erwidern die Pro-Europäer.Es ist nur der Anfang einer langen Debatte – der erste Schatten, den ein künftiges Referendum vorauswirft. Aber dass diese Debatte begonnen hat, zeigt, wie ernst die Frage genommen wird. Immer mehr Inselpolitiker verlangen neuerdings Abkoppelung. Die Befürworter des Verbleibs müssen überzeugende Antworten finden. Um eine Klärung dieser Frage kommt Britannien immer weniger herum.
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