Der Chávez-Clan kommt ins Schwitzen
Venezuelas erste Familie ringt in ihrer Heimatprovinz Barinas um die Macht. Nach dem Vater tritt der Bruder von Präsident Hugo Chávez an – neuerdings muss sich die Sippe gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen behaupten.
Wenn Lateinamerikas Städte hässlich sind, dann sind sie wirklich hässlich, und Barinas belegt in diesem mit urbanistischen Schandtaten gestraften Kontinent eine Spitzenposition. Zwar kann die Hauptstadt des gleichnamigen venezolanischen Bundesstaates mit dem Bolívar-Platz aufwarten, den im Schatten ausladender Bäume ein paar koloniale Gebäude umgeben. Der Rest jedoch ist reinste Augenfolter: ein Gewirr aus Läden, Einkaufszentren, Werkstätten und Lagerhallen, eine Ansammlung quadratischer Zementgebäude und schmutzig-grauer Hochhäuser, entfesseltes Verkehrschaos, Gehupe als ständiges Nebengeräusch, Staub und tagsüber meist eine erdrückende Hitze.
Es gibt nichts Faszinierendes in Barinas - ausser der Tatsache, dass die 250'000 Einwohner zählende Stadt der Macht einer einzigen Familie anheimgefallen ist, genauso wie der von Ackerbau und Viehzucht geprägte Bundesstaat in Venezuelas Südwesten. Und dass diese Macht bei den Regional- und Kommunalwahlen vom nächsten Sonntag ins Wanken geraten könnte, zum ersten Mal seit fast zehn Jahren.
Aber noch ist Barinas Chávez-Land. Schon bevor Hugo Chávez Anfang 1999 in den Regierungspalast von Caracas einzog, hatte die Barineser Bevölkerung seinen damals 65-jährigen Vater zum Gouverneur gewählt - Hugo de los Reyes Chávez, ein Primarlehrer aus bescheidenen Verhältnissen, dem selbst politische Gegner Ehrlichkeit und Herzensgüte bescheinigen. Bloss war Vater Chávez bald einmal überfordert, weshalb er die Stelle des Staatssekretärs schuf. Das in keiner anderen venezolanischen Provinz existierende Amt vertraute er Argenis Chávez an, dem drittgeborenen seiner sechs Söhne. So stieg Argenis zu Barinas' wahrem Machthaber auf, zumal sein Vater nach einem Schlaganfall zeitweise unter halbseitigen Lähmungen litt und zwecks Rehabilitation immer wieder nach Kuba reisen musste. Im Dorf Sabaneta amtiert Aníbal Chávez - ein weiterer Sprössling des Gouverneurs - als Bürgermeister.
Sorge ums Familienimage
Da die Chávez-Brüder im 50 Kilometer von Barinas gelegenen Ort aufgewachsen sind, gilt Sabaneta als Rütli der sozialistisch-chavistischen Revolution. Ende 2008 muss Hugo de los Reyes Chávez seinen Gouverneurssessel räumen, weil ihm eine weitere Kandidatur gesetzlich untersagt ist. Um die Nachfolge bewirbt sich Adán Chávez, ehemals Botschafter in Havanna und Erziehungsminister. Mit Narciso Chávez wurde zeitweilig ein weiterer Bruder als Bürgermeisterkandidat einer Gemeinde gehandelt, doch dies war selbst dem grossen Hugo aus Caracas zu viel des inzestuösen Machtstrebens. Narciso musste verzichten. Auch als sich Argenis ein Geländefahrzeug der Marke Hummer kaufte, sah sich der Präsident aus Sorge ums Familienimage zum Eingreifen gezwungen. In Barinas geht das Gerücht, dass er mit einem Baseballschläger auf die Karosse einschlug, worauf es zwischen ihm und Argenis zu einer Schlägerei gekommen sei.
Frage an den schnauzbärtigen Geschichtsprofessor Nelson Montiel, der in der Zentrale der Chávez-Partei Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) sitzt, umgeben von telefonierenden, hin und her eilenden, auf Computertastaturen einhackenden Aktivisten: Beruht die Ämterfülle des Präsidentenclans nicht auf einem Machtfilz der unverschämtesten Sorte? «Ganz und gar nicht. Die Familienmitglieder sind ausnahmslos demokratisch gewählt. Warum zum Teufel soll einer nicht Gouverneur oder Bürgermeister werden, bloss weil er zufällig mit dem Präsidenten verwandt ist? War Bushs Bruder etwa nicht Gouverneur von Florida?»
Ein formaljuristisch einleuchtendes Argument, das es wert ist, notiert und später der Gegenseite vorgelegt zu werden. Aber zunächst schildert der Altmarxist Montiel, wie er Hugo Chávez zum ersten Mal getroffen hat, damals in den Achtzigerjahren, als der spätere Staatschef noch ein namenloser, über revolutionären Visionen brütender Offizier war. «Ich ging mit ein paar anderen linken Intellektuellen zu einem Volksfest und wurde zweifach überrascht: Dass da ein junger Mann in einer hinreissenden Rede sozialistische Ideale feierte, obwohl er Uniform trug. Und dass er ebenso hinreissend singen konnte.» Seither ist Montiel um keinen Millimeter von seiner Treue zu Hugo Chávez und dessen Revolution abgewichen.
Die Ambivalenz der Revolution
Venezuelas Revolution, welche die weltweit sechstgrösste Erdölnation in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts führen soll: Sie hat Millionen Arme alphabetisiert und ihnen erstmals eine medizinische Grundversorgung ermöglicht. Sie hat gebührenfreie Schulen und Universitäten geschaffen. Sie hat eine Viertelmillion billiger Wohnungen errichtet. All dies anerkennt auch die überwiegende Mehrheit der Oppositionellen. Und doch befindet sich das Land zehn Jahre nach Anbruch der Ära Chávez in bedenklichem Zustand: Die jährlichen Inflationsraten sind zweistellig, die Investitionen aus dem Ausland befinden sich auf einem Sturzflug, Kriminalität und Korruption überborden, und ob der aufgeblähte Staatsapparat sowie die gelobten Sozialprogramme bei tieferen Erdölpreisen weiter zu finanzieren sind, ist zweifelhaft. Die öffentliche Debatte um diese Widersprüche prägt auch die Wahlen in Barinas.
Wenige Hundert Meter von der PSUV-Zentrale entfernt, sitzt in einer zum Wahlkampfbüro umfunktionierten Garage eine Gruppe ehemaliger Chávez-Anhänger, die die Seite gewechselt haben. «Ja, ich bin enttäuscht von unserem Präsidenten», sagt die 35-jährige Ökonomin Kleinis Díaz. Jahrelang habe sie für die bolivarische Revolution gekämpft, sei Aktionskomitees beigetreten und bei Massendemonstrationen mitmarschiert. «Aber als Chávez seinen Bruder Adán zum Gouverneurskandidaten für Barinas ernannte, habe ich mir gesagt: Jetzt reichts. Seither kämpfe ich für den Kandidaten der Opposition.»
Dem Blödsinn nicht mehr zujubeln
Díaz' Worte spiegeln eine Ernüchterung, die im ganzen Land umgeht – zumindest besagen dies die Meinungsumfragen. Ihren Resultaten zufolge könnte der PSUV bis zu 10 der insgesamt 23 Bundesstaaten an die Opposition verlieren, welche bisher nur in zwei Regionen regiert hat. Für den erfolgsverwöhnten Präsidenten wäre dies ein harter Rückschlag, und besonders bitter empfände er wohl den Verlust seines Heimatstaates Barinas. Aber was ist mit dem Argument des sozialistischen Geschichtsprofessors Montiel, wonach die Macht der Herrscherfamilie auf demokratischen Wahlen beruht? Durch die Garage dröhnt Gelächter. «Was glauben Sie, wie viel Geld der PSUV und seine Kandidaten aus der Staatskasse bekommen? Und wie viele Millionen Chávez seinem Vater in den Hintern steckte, damit der Schulen und Autobahnen bauen konnte?»
Julio César will Barinas aus den Klauen des Chávez-Clans befreien - doch dazu muss ihn das Volk am Sonntag anstelle Adáns zum Gouverneur wählen. Noch vor kurzem gehörte César selber zum Lager des Präsidenten, weshalb ihn das PSUV-Parteiblättchen «A la izquierda» («Nach links») konsequent «Judas César» nennt. Der Abtrünnige hat im Innenhof eines Privathauses eine Gruppe Anhänger um sich versammelt und sagt: «Endlich muss ich nicht mehr heucheln. Endlich muss ich all dem Blödsinn nicht mehr zujubeln, den der Präsident und seine Brüder von sich geben.» Wann und warum ist dieser Gesinnungswandel denn eingetreten? «Vor einigen Wochen, als ich bei der Auswahl des Gouverneurskandidaten übergangen und mir Adán vor die Nase gesetzt wurde.»
Hätte sich der Präsident für ihn entschieden, wäre er also noch immer sein Gefolgsmann - das ist aber nicht sehr überzeugend, Herr César. Die Antwort ist ein verlegenes Lächeln und ein Seitenblick auf seine Wahlkämpfer. Glück gehabt, sie haben die Frage gar nicht gehört. Streitsucht und mangelnde Glaubwürdigkeit sind seit je das Kreuz der venezolanischen Opposition - und die Tatsache, dass viele ihrer Exponenten, verglichen mit dem überschäumend charismatischen Chávez, wirken wie Buchhalter beim Herunterlesen einer Jahresbilanz.
Sabaneta, die Wiege der Revolution
Die Wiege der chavistischen Revolution ist ein einstöckiges Zementhäuschen in Sabaneta. Hier sind Hugo und Adán Chávez aufgewachsen, betreut von ihrer Grossmutter Rosa Inés - denn um sechs Kinder durchzufüttern, fehlte Hugo de los Reyes und dessen Gattin Doña Elena das Geld. In seinem engen Zimmer lauschte der kleine Hugo den grossmütterlichen Gutenachtgeschichten, die zumeist vom lateinamerikanischen Freiheitshelden Simón Bolívar handelten. Im Hinterhof schwang er den Baseballschläger und träumte davon, dereinst bei einem der grossen amerikanischen Clubs zu spielen.
Heute ist das Gebäude die lokale Parteizentrale des PSUV, am Eingang fordert ein kurzhaariger junger Mann mit dunkler Sonnenbrille bellend nach einem Ausweis. «Klar sind wir stolz auf unseren Präsidenten. Vor allem aber sind wir ihm auch dankbar», sagt ein älterer Herr auf dem Bolívar-Platz.
Zu Dankbarkeit hat Sabaneta tatsächlich Grund - denn seit sein illustrer Sohn in Caracas regiert, hat sich das einst dösende Dorf zum Rummelplatz entwickelt. In seiner Umgebung sind eine Zuckerrohrfabrik und ein Gaswerk entstanden; eine Erdölraffinerie befindet sich im Bau. Statt einer Schotterstrasse führt jetzt eine vierspurige Autobahn nach Barinas, auf einem gigantischen Plakat kündigt die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA den Bau einer modernen Wohnsiedlung an. «Die Revolution ist ein Segen für das Volk», heisst es in roter Schrift. Vor allem aber ist sie ein Segen für die Familie Chávez, die das kleine Zementhaus in Sabaneta längst gegen mehrere Landgüter eingetauscht hat.
Zweckloyale Ignoranz
Vor gut einem Jahr verkündete Hugo Chávez einen Entscheid, der inzwischen tatsächlich umgesetzt ist: Damit die venezolanischen Arbeiter und Schulkinder länger schlafen können, werde die Uhrzeit um eine halbe Stunde vorgestellt. «Dann muss man sie aber nicht vor-, sondern zurückstellen», rief jemand aus dem Publikum. Der Präsident war verwirrt und fragte seinen anwesenden Bruder Adán um Rat - damals noch Erziehungsminister, heute Gouverneurskandidat in Barinas. «Was der Präsident sagt, ist schon richtig. Wir müssen vorstellen», behauptete Adán, womit er sich natürlich ebenfalls irrte.
Die Wahlen vom kommenden Sonntag werden zeigen, ob in Barinas auch die Uhren der Politik unverändert anders gehen.
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