Ausbau mit den Deutschen im Nacken
Vor fünfzig Jahren freuten sich die Weinländer noch über die neue Autostrasse. Nun aber stimmten sie nur unter Druck dem Ausbau zu.
Von René Donzé Andelfingen – Karl Griesser (67) kann sich noch gut erinnern: «An schönen Herbstsonntagen sassen wir Kleinandelfinger Kinder auf der Mauer bei der Holzbrücke und spickten schwarze Beeren in die amerikanischen Limousinen, die durch das Dorf fuhren.» Einmal habe eine derart befleckte noble Dame den Dorflehrer ausfindig gemacht. Der habe schnell herausgefunden, welche Lausbuben hinter dem Streich steckten. «Das gab eine kräftige Ohrfeige», erzählt Griesser, der später Marthaler Gemeindepräsident und Bezirksrat wurde. 1950, als Griesser noch ein Junge war, rollte der gesamte Nord-Süd-Verkehr von Schaffhausen durch die Dörfer nach Winterthur. «Nicht nur wir Kinder, auch das Gewerbe hatte Freude an den vielen Autos.» Darum leisteten namhafte Andelfinger Unternehmer Widerstand gegen die geplante Schnellstrasse. Ohne Erfolg. Mitte der Fünfzigerjahre zogen Ingenieure die imposante Betonbrücke über die Thur bei Andelfingen. 1958 gabs ein grosses Volksfest zur Einweihung. Bald darauf frassen sich die riesigen amerikanischen Baumaschinen – Scrapers hiessen sie – weiter nordwärts durch die Landschaft. Im Barackendorf hausten an die fünfzig italienische Fremdarbeiter, argwöhnisch beäugt von den Knaben und bewundert von den Mädchen. 1963 wurde die neue Strasse zwischen Andelfingen und Schaffhausen dem Verkehr übergeben, als eine der ersten Autostrassen der Schweiz. Tempolimiten gab es nicht. «Fast jeden Sonntag krachte es auf der Kreuzung bei Kleinandelfingen», erzählt Griesser. Erst später, nach dem Bau der Unterführung, nahmen die Unfälle etwas ab. Protest gegen das «Betonland» «Für die Dörfer war die A 4 ein Segen», erinnert sich Griesser, der Verkehr ging deutlich zurück. So freudig die Weinländer die moderne Strasse begrüssten, so kritisch standen sie einem zweiten Strassenprojekt gegenüber, das bald darauf aufs Tapet kam: Eine Ost-West-Verbindung sollte quer durch den nördlichen Teil des Kantons Zürich gebaut werden und die A 4 in Benken kreuzen. «Mein Land – Dein Land – Weinland – Betonland?», stand auf den Klebern, die auf Autos, Schultaschen und Haustüren klebten. Eine Petition gegen das Bemerken Kreuz mit 32 484 Unterschriften trugen die Trachtenfrauen 1972 in Bückis und Kisten nach Bern. Bundesrat Hanspeter Tschudi lenkte ein. Doch Deutschland baute im Norden weiter an der A 98, mit der Absicht, sie irgendwann doch noch auf Schweizer Boden zusammenschliessen zu können. «Das war für uns immer ein Schreckgespenst.» Um diesem zu begegnen, schlossen sich Politiker zum Verein «JA 4» zusammen, dessen Co-Präsident Griesser ist. Dessen Ziel war der Ausbau der A 4, um die A 98 zu verhindern. Der Verkehr sollte in der Schweiz von bestehenden Strassen geschluckt werden. Die Zeit spielte für die Weinländer. Im Jahr 2000 wurde die Lücke im Süden zwischen Andelfingen und Winterthur mit einer zweispurigen Autostrasse geschlossen, die später auf vier Spuren ausgebaut werden soll. Und im Norden stand die Sanierung der bereits 50-jährigen Schnellstrasse an. Baudirektor Hans Hofmann (SVP) schlug vor, die A 4 zur Miniautobahn auszubauen, statt den Verkehr während der monatelangen Bauzeit durch die Dörfer zu leiten. Es fahren etwa gleich viele Autos auf dieser Strecke wie täglich durch den Gotthard rollen. Bundesrat Moritz Leuenberger unterstützte diese Idee. Allerdings nur, wenn aus dem Weinland keine Opposition komme. «Es war unser schönster Erfolg, dass wir von links bis rechts einen Konsens erreichen konnten», sagt Griesser, der in jungen Jahren bei den Grünen und später für die FDP politisierte. Nach der Eröffnung der Miniautobahn will er sein Mandat bei «JA 4» abgeben und seinen Ruhestand in seinem neuen Andelfinger Heim geniessen. Karl Griesser Der ehemalige Marthaler Gemeindepräsident undBezirksrat (67) war Mitglied der Zürcher Planungsgruppe Weinland und des Komitees JA 4.
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