«Auch wir werden Weltmeister. Das ist Mathematik»
Eishockey-Nationalcoach Patrick Fischer wünscht sich stolzere, bissigere Schweizer und sagt, was ihn für die WM optimistisch stimmt.

Können Sie die Schweizer Nationalhymne auswendig?
Ja klar. Simon Schenk sagte früher schon, ein richtiger Schweizer müsse die Hymne können. Ich weiss nicht mehr genau, wo ich sie so richtig gelernt habe. Ich weiss aber, dass ich sie 2013 an der WM in Stockholm (er war Assistenzcoach) den Jungs beigebracht habe. Seitdem kann ich sie recht gut.
Alle Strophen?
Nein. Einfach so lange, wie man sie singt.
Das ist ein gutes Stichwort. Singen Sie bitte!
(singt) Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer. Dich, du Hocherhabener, Herrlicher. (unterbricht) So, diese Kostprobe muss genügen. Ich singe nicht besonders schön, aber jedes Mal sehr gerne und bewusst mit.
Sie sind ein Kosmopolit, spielten in Nordamerika und Russland, reisten auch nach Ihrer Karriere viel herum, besuchten Indianerstämme. Ist das nicht ein Widerspruch zum Patriotismus, den Sie vorleben?
Nein. Die Erde ist ein wunderschöner Planet. Und sie hat ganz viele schöne Flecken. Einer davon ist die Schweiz. Wenn mich Freunde aus dem Ausland besuchen, trauen sie ihren Augen kaum. So schön ist es hier! Das denke ich jedes Mal, wenn ich die Axenstrasse am Vierwaldstättersee entlangfahre. Ich lebte sieben Jahre im Tessin, wir haben das Wallis, das Bündnerland, Luzern, Zug, den Jura. Ich glaube, es gibt keinen hässlichen Ort in der Schweiz. Wenn ich den Leuten erzähle, was wir alles haben, obwohl wir so klein sind, sind sie immer wieder erstaunt. Dass wir vier Sprachen sprechen, harmonisch miteinander umgehen. Ich glaube, wir machen einiges richtig.
Wurden Sie mit der Berufung zum Nationaltrainer nicht zwangsweise zum Patrioten? Weil das Ihre Rolle ist?
Vor der WM in Stockholm setzte ich mich etwas intensiver mit der Schweiz auseinander. Wir lernen zwar in der Schule, was die Römer machten und die Griechen, aber wir haben keine Ahnung, woher wir kommen. Dass wir ein keltischer Volksstamm waren. Oder dass die Reisläufer, die Schweizer Söldner, vor 400 Jahren Riesenkrieger waren. Jene, die uns nun «Swiss Miss» zurufen, Schweizer Memmen, können nicht auf eine solche Geschichte zurückblicken.
Aber was soll das dem Nationalteam helfen?
Ganz einfach: Ich habe das Gefühl, wir Schweizer stecken viel zu schnell zurück. Wenn ein Stuhl frei ist, lassen wir lieber jemand anderen vor. Ich rede nun nicht nur vom Hockey. Wir haben hervorragende Ausbildungen, sind weltweit absolut top, aber wenn ein Grossmaul aus Übersee kommt, denken wir alle: Der kann es sicher besser. Auch wenn er nicht halb so viel Ahnung hat wie wir. Uns würde es guttun, mehr an unsere Stärken und Fähigkeiten zu glauben. Ich denke, wir bezahlen den Preis für unsere Zurückhaltung. Im Sport haben wir zwar einzelne Topstars, sei dies im Skifahren oder im Tennis. Aber bei einem Team von 20 klappt das nicht.
Ausser bei der WM-Silbermedaille 2013 in Stockholm.
Genau! Da sahen wir, wozu wir fähig sind, als wir einmal ein paar Spiele gewonnen haben. Plötzlich spielten wir wie die Russen. Jeder glaubte an sich, wir liefen durch mit neun Siegen, schlugen im Halbfinal die Amerikaner problemlos 4:0. Da war dieses kollektive Selbstvertrauen endlich einmal da. Und in einem Vollkontakt-Sport wie Eishockey ist das einfach enorm wichtig.
«Bei uns gibt es Spieler in der Nationalliga A, die haben eine wunderschöne Karriere, obschon sie verhältnismässig wenig zustande gebracht haben»
Aber wieso produziert der Schweizer Sport herausragende Persönlichkeiten wie Roger Federer, Stan Wawrinka, Dario Cologna oder Simon Ammann? Was ist bei diesen anders?
Die Dynamik ist im Einzelsport eine andere. Du wächst von klein auf in das rein, und wenn du dann merkst, dass du bei den Besten der Welt dabei bist, kommt auch das Vertrauen. Aber es ist schwieriger, dass 20 auf diesen Standard kommen und dann auch noch zusammen funktionieren.
An der WM 2016 in Moskau rüsteten Sie die Spieler mit T-Shirts aus, auf denen stand: «Jetzt isch üsi Ziit. Mir sind muetig, mir sind stolz, mir vertraued, mir sind starch. Mir sind Eidgenosse.» Was nützte es?
Zuerst einmal fand ich es ein cooles Shirt. Es braucht Mut, in seine Grösse hineinzuwachsen. Zu sagen: Wir sind gut. Das ist der erste Schritt, vor dem haben schon viele Angst, weil er Verantwortung mit sich bringt. Mut, Stolz, Vertrauen waren unsere Leitworte. Indem wir sie auf T-Shirts druckten, sollten sie noch stärker wirken. Viele haben schon ein Problem damit zu sagen, wir seien Eidgenossen. Dabei ist das unsere Geschichte. Damit ehren wir die schlauen Leute, die unser Land gegründet haben.
Sind die Schweizer Eishockeyaner ein Abbild unserer Gesellschaft? Pflichtbewusst und fleissig, aber auch bequem?
Uns geht es sehr gut. Wir kennen die knallharte Realität nicht, mit der viele anderswo auf der Welt konfrontiert sind. Ich kann das von mir selber sagen: Ich hatte eine wunderbare Kindheit, null Probleme, keine Gefahren, keinerlei Aggressivität, ich musste mich nie durchs Leben schlagen. Zudem ist die Konkurrenz bei uns im Eishockey verglichen mit Kanada extrem klein. Wenn du einigermassen geradeausfahren konntest, zähltest du schon zu den Besseren. Ich musste mich also auch da nicht durchbeissen. Aber irgendwann muss man das lernen.
Sie wechselten mit 16 zu einem kanadischen Juniorenteam. Öffnete das Ihnen die Augen?
Absolut. Dort kämpften 80 Kinder um 2 Plätze. Und wer es nicht schaffte, versuchte sich beim nächsten Try-out. Solche Konkurrenz spornt an. Hier in der Schweiz stieg ich als Junior automatisch Stufe um Stufe auf. Nicht, weil ich besser, sondern weil ich älter wurde. Das ist unsere Realität, und deshalb brauchen wir länger, bis wir uns richtig durchsetzen können. Deshalb gibt es so wenige Schweizer, die es auf Anhieb in der NHL schaffen. Ich denke aber nicht, dass man uns vorwerfen kann, wir seien zu bequem. Es wäre ja fast unmenschlich, wenn einer immer voll an die Grenze gehen würde, obschon er gar nicht muss.
Das mangelnde Durchsetzungsvermögen zeigt sich vor dem Tor. Im Playoff hiessen die besten Torschützen McIntyre, Arcobello und Ebbett. Wieso?
Die Nordamerikaner haben das einfach im Blut. Das liegt nur schon an ihrer Technik. Sie schiessen einfach besser. Als ich in die NHL kam, haben sie mich fast ausgelacht, der Unterschied war so gross. Da hat jeder Viertlinien-Stürmer einen Hammer. Toreschiessen ist aber auch Willenssache. Ich habe nicht gut geschossen, aber ich wollte Tore schiessen. Ich probierte es, immer wieder. Wenn da einer unbedingt will, gehen die Pucks auch rein. Womit wir wieder beim Punkt wären: Wenn du in Nordamerika danebenschiesst, spielst du in der AHL für 60'000 Dollar. In der NHL verdienst du zehnmal mehr. Bei uns gibt es Spieler in der Nationalliga A, die haben eine wunderschöne Karriere, obschon sie verhältnismässig wenig zustandegebracht haben.
An Ihrer ersten WM als Headcoach versuchten Sie, ein offensiveres Spiel zu fördern, um mehr Tore zu begünstigen. Das ging schief. Kehren Sie nun zurück zur bewährten Schweizer Defensivtaktik?
Nein, ja nicht! Das würde unserem Eishockey nicht helfen. Wir müssen lernen, mit dem Puck zu spielen, Tore zu schiessen, unter Druck in der eigenen Zone einen schlauen Pass zu spielen. Sonst werden wir überholt. Schlecht war in Moskau vor allem das Unterzahlspiel. Da kassierten wir zehn Tore. Wenn das Boxplay halbwegs normal gewesen wäre, wäre alles nicht so wild gewesen. Wir wollen nicht zurück zur Spielweise von vor zehn Jahren, als wir uns einmauerten und auf einen überragenden Goalie hoffen mussten. Unter Ralph Krueger kamen wir mit Defensive in die Top 7. Sean Simpson stiess einen Wandel an, in Stockholm spielten wir Eishockey. Letztes Jahr stimmte die Balance nicht, wir nahmen zu viel Risiko auf uns. Ich war zu optimistisch gewesen. Aber wir haben unsere Lektion gelernt.
Mit dem schwedischen Assistenten Tommy Albelin haben Sie ja nun einen Aufpasser bekommen.
(lacht) Ja, Tommy passt auf. Er passt extrem auf.
Kann es gut gehen, wenn zwei Coaches so unterschiedliche Philosophien haben? Der eine auf Offensive, der andere auf Defensive setzt?
Medial wurde das etwas aufgebauscht. Ich bin ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Ich sagte in Lugano ja auch nicht: «Jetzt müsst ihr nur noch offensiv spielen!» Aber Tommy ist dort ein super Pendant zu mir. Ich bin ein Optimist, der gerne etwas ausprobiert. Tommy sagt vielleicht manchmal eher: «Lass uns zuerst überlegen.» Das hatte ich in Lugano schon ähnlich mit Peter Andersson, obwohl der noch etwas offensiver ausgerichtet war. In erster Linie ist Tommy ein sensationeller Typ. Er bringt Ruhe rein, und die Spieler arbeiten gerne mit ihm. Ich bin froh, ist er da.
Welche Bedeutung hat diese WM für Sie persönlich, nachdem Sie 2016 den Viertelfinal verpassten? Entscheidet das Abschneiden Ihre Zukunft, trotz Zweijahres-Vertrag?
Ich weiss auch, dass es für mich nicht ideal wäre, wenn die WM in die Hosen gehen sollte. Aber ich liebe diese Herausforderung. Ich suche diesen Druck, schon mein ganzes Leben. Ich gebe mein Bestes, um jeden Tag ein besserer Coach zu werden. Ich bin mir bewusst: Viele hängen am Nationalteam. Ich hoffe, ich darf die Hymne noch ein paar Jahre singen. Vor und nach dem Match. (lacht)
Sie erlebten viele Weltmeisterschaften als Spieler. Was ist nun anders als Coach?
Es ist eine ganz andere Belastung. Als Spieler bist du extrem fokussiert auf dich, du denkst an deinen Stock, deine Schlittschuhe, an dein Spiel. Daran, was du tun musst, damit dein Motor läuft. Als Coach arbeitet dein Kopf die ganze Zeit, du musst immer aufpassen. Dafür ist der Körper entspannter. Beides hat seinen Reiz. Ich genoss die letzte WM, obwohl es resultatmässig nicht so lief. Emotional war es dennoch mega schön.
Als Spieler waren Sie ab und zu im Nachtleben anzutreffen. Wie lang ist die Leine, an der Sie in Paris die Spieler führen?
Ich bin alles andere als ein Kontrollfreak. Ich vertraue der Mannschaft und unserem Captainteam. Wir gingen früher ab und zu auf ein Bier, aber das waren andere Zeiten. Diejenigen, die an der WM sind, haben den richtigen Charakter, um zu wissen, wann es Zeit ist, einen zu heben, und wann nicht.
Ist ein Sturmlauf wie in Stockholm nochmals möglich?
Hundertprozentig. Wir haben das Potenzial, um wieder eine solche Dynamik zu entfachen. An einem Turnier geht es schnell, in beide Richtungen. Die grosse Hürde sind die ersten sieben Spiele, man muss sich in die ersten Vier reinspielen. Dann kommt das eine Spiel, und wenn man das gewinnt, bleiben noch vier Teams. Vize-Weltmeister sind wir schon, der nächste Schritt ist Weltmeister. Ausser uns haben es alle der Top 8 schon geschafft, auch die Slowaken. Und auch wir werden es einmal schaffen. Das ist Mathematik.
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