Arbeitslos, obdachlos, hoffnungslos
Als Folge der Krise landen immer mehr Menschen in Griechenland auf der Strasse – selbst solche, die sich früher nie Gedanken machen mussten. Aus Scham beginnen viele ein Doppelleben.

Bis vor anderthalb Jahren hatte Dimitri noch eine Wohnung, einen Arbeitsplatz, ein geregeltes Leben. Auf der Strasse ging er an Obdachlosen vorbei, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Nie wäre er darauf gekommen, dass er einmal einer von ihnen sein würde. Heute haust er unter einer Autobahnbrücke; sein Bett ist eine Decke unter einem alten Schreibtisch mit einer zerbrochenen Kiste als Kopfkissen.
Seit die Schuldenkrise Ende 2009 hochkochte und Griechenland am Rand der Pleite taumelt, haben zehntausende Angestellte und Selbstständige ihre Arbeit verloren. Viele andere haben noch eine Beschäftigung, aber schon seit Monaten keinen Lohn mehr gesehen. Die Arbeitslosenquote erreichte im August einen Rekordstand von 18,4 Prozent, statt – wie in der touristischen Hauptsaison zu erwarten – zurückzugehen.
Die Zahl der Obdachlosen stieg in den vergangenen zwei Jahren um etwa ein Viertel auf rund 20'000, schätzt Athanasia Tourkou von der Hilfsorganisation Klimaka, die sich um obdachlose und psychisch kranke Menschen kümmert. «Früher waren es nur psychisch Kranke oder ehemalige Strafgefangene», sagt Dimitri. «Heute ist das vollkommen anders. Jetzt leben ganze Familien auf der Strasse.»
Familienstrukturen überfordert
Dimitri ist 49, geschieden, hat eine 19-jährigen Tochter und einen 18-jährigen Sohn und war früher Mitglied einer bekannten griechischen Volkstanztruppe. Er schämt sich, seiner Ex-Frau und den Kindern zu sagen, was ihm widerfahren ist. Deshalb will er auch seinen Nachnamen nicht genannt wissen, weil sie glauben, dass er bei einem Freund wohnt. Seinen Schlafplatz unter der Brücke verlässt er jeden Tag noch vor Morgengrauen. «Ich will nicht, dass man mich auf der Strasse schlafen sieht», sagt er. «Ich laufe endlos herum... Das erschöpft einen, seelisch und körperlich.»
Schuldenlast und Haushaltsdefizit liessen Griechenland im Mai 2010 unter den europäischen Rettungsschirm kriechen. Als Bedingung für die Milliardenhilfen wurden Ausgaben beschnitten, Löhne und Renten gekürzt und Steuern auf alles Mögliche von Lebensmitteln und Benzin bis zu Einkommen und Grundbesitz erhöht. In diesem Jahr wird die Wirtschaft voraussichtlich um 5,5 Prozent schrumpfen; 2012 droht das vierte Rezessionsjahr in Folge. Die Staatsverschuldung wird 2011 vermutlich 352 Milliarden Euro oder 161 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen.
Erste Anlaufstelle in der Not ist traditionell die Familie. Doch die harten Zeiten überfordern häufig auch dieses Auffangnetz. Viele, die die Miete nicht mehr zahlen können und aus der Wohnung fliegen, wissen nicht mehr wohin und landen auf der Parkbank. «Bis jetzt waren Obdachlose zumeist Menschen mit psychischen Problemen oder Suchtproblemen», berichtet Tourkou, deren Organisation den Klienten in einem Tageszentrum Zuflucht, Waschgelegenheit und Rat anbietet. «Jetzt ändert sich die Struktur. Jetzt sehen wir Leute mit sehr hohem Bildungsstand, Leute, die vor ein paar Monaten noch ein Haus hatten, eine geregelte Arbeit, ein Familienleben. Und jetzt sind sie auf der Strasse.»
Suppenküche im alten Börsenviertel
In der Hauptstadt sind tausende der Ärmsten inzwischen auf Lebensmittelhilfe der Kirchen, der Stadt oder wohltätiger Einrichtungen angewiesen. Die grösste städtische Suppenküche liegt in der Sofokleus-Strasse, wo sich bis 2007 die Athener Börse befand. Täglich werden hier 2500 bis 3000 Menschen verköstigt – nicht nur Obdachlose, sondern auch andere Bedürftige, die es nicht mehr schaffen, regelmässig eine Mahlzeit aufzutischen.
Für den ehemaligen Tänzer Dimitri ist das weit entfernt von den Bühnenauftritten in Athen, von den Auslandstourneen mit der Truppe. Heute bestimmen die Ausgabezeiten der Suppenküche sein Leben. «Obdachlose hatte ich in England gesehen, in den USA», erinnert er sich. «Ich hätte nie gedacht, das ich einer werden könnte.»
Apostolos Ntonis lebt seit rund einem Jahr auf der Strasse, seit der Kiosk dicht machte, in dem er arbeitete. Einen anderen Job fand er nicht. «Das Üble ist, dass es nichts gibt», sagt er. Und ausserdem, weist er auf seine magere Gestalt und die schmuddelige Kleidung: «Wer würde mich in diesem Zustand schon einstellen? Ich sehe furchtbar aus, schauen Sie mich doch an.»
Vor dem Job im Kiosk hatte Ntonis als Klempner im Heizungsbau gearbeitet. Doch das Leben auf der Strasse habe seine Gesundheit angegriffen, berichtet er. Drei oder vier Mal sei er in letzter Zeit im Krankenhaus gewesen. Als er seine Wohnung räumen musste, war er erst für eine Weile bei einem Freund untergekrochen. «Aber wie lange sollen die sich um einen kümmern? Das kann man doch nicht machen.»
Gegen die Kälte des nahenden Winters wappnet sich Ntonis mit billigem Wein von dem bisschen Geld, das er auftreiben kann. Gefangen in einem Teufelskreis, sieht er kaum einen Hoffnungsschimmer für sich, für die anderen Obdachlosen, für das ganze Land. «Es kommt schlimmer», sagt er und macht sich auf, von den Helfern bei Klimaka einen Schlafsack abzuholen. «Glauben Sie mir, es kommt noch viel schlimmer.»
ElenaBecatoros/ dapd/miw
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