Angst – eine ansteckende Krankheit
Die Angst vor dem Versagen könnte zum Versagen führen – das löst eine Kettenreaktion aus.

Jede Nacht, zwischen drei und vier Uhr morgens, schrecken viele Menschen dieser Stadt jäh aus dem Schlaf, da sie geträumt haben, sie seien von der Angst befallen. Klopfenden Herzens vergewissern sie sich, dass dies nur ein Traum sei, fallen zwei Stunden später in einen traumlosen Tiefschlaf, aus dem sie zehn Minuten später durch den Wecker wieder herausgerissen werden. Gerädert rütteln sie ihre Kinder wach, mahnen sie, in der Schule nicht auffällig zu sein und in den Franz-, den Deutsch- und Matheprüfungen gute Noten zu schreiben. Und im Schwimmen sollen sie sich noch ein wenig mehr anstrengen, um Erste/r und nicht nur Zweite/r zu werden.
Derweil hoffen Lehrpersonen, dass der Mathetest nicht einklagbar sei, besteigen das Velo und fallen kurz vor dem Schulhaus in den Korrekte-Sprache-Modus. Die Eltern bringen die Kinder zur Schule und beeilen sich, genau zu der Zeit zur Arbeit zu erscheinen, die das System vorschreibt. Die Kinder aber schwänzen die Schule, aus Angst, in Deutsch, Franz und Mathe zu versagen und im Schwimmen wieder nur Zweite/r zu werden. Sie wissen, würden sie versagen, würden die Eltern noch mehr Angst davor haben, selbst zu versagen, würden sich noch mehr um sie kümmern und noch mehr Druck machen. Worauf sie, die Kinder, aus Angst zu versagen versagen würden.
Die Lehrpersonen informieren aus Angst vor Klagen wegen Verletzung der Aufsichtspflicht die Erziehenden über das Fehlen der Lernenden. Worauf die Eltern die Lernenden stressen. Und die Lernenden die Lehrpersonen. Und niemand beruhigt sich mehr. Und alle wachen weiterhin zwischen drei und vier Uhr morgens auf. Und aus Angst vor dem sich abzeichnenden Zusammenbruch gehen alle auf die Notfall-Psychiatrie, in der Hoffnung, die Menschen dort könnten ihnen die Angst nehmen. Aber die Psychiater* innen haben keine Zeit, da sie gerade evaluieren, wie man sich vor der Ansteckung der sich epidemieartig ausbreitenden Angst schützt.
Und ein kleines Mädchen fragt ihre Mutter im Wartezimmer: «Mama, was ist Mut?»
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