Unkonventionelles TheaterAnarchie, Anita Fetz und die Aarau AG
In einem Improvisationsstück, das im Aarauer Grossratssaal spielt, treten die ehemalige Basler Ständerätin Anita Fetz und Alt-Polizeivorstand Baschi Dürr auf. Ein Zukunftsszenario mit Laienschauspielern, die auch Zuschauer sind – und umgekehrt.

Im Grossratssaal in Aarau geschehen derzeit seltsame Dinge. Der Saal ist temporär zum Theater umfunktioniert worden; Proberaum Zukunft heisst das Projekt, das drei Theaterschaffende ins Leben gerufen haben. Es dauert drei Jahre und soll in Kooperation mit der Bühne Aarau «Räume zum Visionieren und Träumen» schaffen und sich der Frage widmen, «wie wir in Zukunft leben wollen», wie es auf der Website heisst.
Am Improvisationsstück kann sich jedermann spontan beteiligen. Die Protagonisten sind Zuschauer, die Zuschauer sind Protagonisten. Am Mittwoch mischten unter anderen die ehemalige Basler SP-Ständerätin Anita Fetz und der abgetretene FDP-Polizeivorsteher Baschi Dürr mit.
Das Szenario geht so: Wir schreiben das Jahr 2071. Es gibt keine Kantone mehr. Konzerne haben die Welt übernommen, Amerika ist zusammengebrochen. Die Aarau AG besitzt und betreibt die Gebiete der ehemaligen Schweiz sowie weite Teile der Nachbarschaft und beliefert jährlich 1,2 Milliarden Menschen mit Dienstleistungen. Sie plant ein gigantisches Projekt: Auf dem Meer soll Atlantis entstehen, ein Archipel künstlicher Inseln zwischen den Azoren und Neufundland.
«Historische Zeitenwende»
Doch dann veröffentlicht ein anarchistisches Hackerkollektiv die Atlantis Papers: Das Management der Aarau AG hat die Öffentlichkeit seit Jahren hinters Licht geführt, Atlantis existiert nur noch auf dem Papier. Die Verantwortlichen tauchen ab. Der Aktienkurs bricht um 80 Prozent ein.
Jetzt zählt jede Stunde. Die 140 grössten Aktionäre sind im Grossratssaal in Aarau zusammengekommen, um eine neue Konzernleitung zu wählen – Aktionäre, die aus dem Publikum bestehen. Die Grande Dame von Basel, Anita Fetz, bewirbt sich um einen Sitz als CEO. Den wollen aber auch Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger und der Grüne Daniel Ballmer, einst der linkste Aargauer Grossrats-Kandidat sowie Kommunist oder Anarchist.
«Wir stehen vor einer historischen Zeitenwende», schmettert Eichenberger in den Saal. «Der Untergang von Atlantis ist das Marignano der Aarau AG.» Er plädiert für Gesundschrumpfung, damit wieder Wachstum möglich ist. «Jetzt müssen Sie Aktien kaufen, die waren noch nie so billig wie heute.»
Daniel Ballmer preist sich an: «Der Fisch stinkt vom Kopf, aber weil er ein toter Fisch ist.» Die Aarau AG sei schon immer ein undemokratisches Gebilde gewesen. Das werde er ändern und dann wieder abtreten.
«Steigen Sie von Ihrem toten Pferd»
Anita Fetz hingegen will viele kleine, unabhängige Firmen schaffen: «Wir nehmen das Heft selbst in die Hand, unsere Vision ist die Unabhängigkeit», lässt sie es nach alter Manier in den Saal fetzen. Sie will eine Regio AG und die alte Firma sausen lassen. Der höchste Lohn dürfe höchstens zehnmal höher sein als der tiefste, die Aktien könnten nicht vererbt werden.
Baschi Dürr als Aktionär der Aarau AG meldet sich zu Wort. Er stellt den Antrag, Frau Fetz von der Wahl auszuschliessen: «Ich bin jetzt 94 und will meinen Urenkeln und Enkeln mein Aktienpaket übergeben.»
Streng sagt Sitzungsleiterin Andrea Sprecher: «Ausschliessen können wir jemanden nur in wichtigen Fällen.»
«Das ist eine Diktatur», poltert Dürr.
Ein Herr mit Karomuster-Jacke schaltet sich ein: «Mein Name ist Christian Bär, ich bin Aktionär. Steigen Sie von Ihrem toten Pferd, diese Firma ist totgeritten.» Er fordert, den Konzern in Konkurs gehen zu lassen und wieder zur guten, alten Schweiz zurückzukehren. «Hopp Schwiiz, wir lassen die Schweiz neu aufleben.»
Jetzt will sich eine Linda Sulzer, Vertreterin der Kigali Group, zu Wort melden. Ein grauhaariger Herr unterbricht sie, sein jungenhaft gebliebenes Gesicht ist rot vor Wut: «Halt, halt, halt, das geht nicht, die Kigali Group hat uns in die Scheisse geritten.» Der grauhaarige Herr entpuppt sich als Urs Hofmann, lange Jahre Aargauer SP-Regierungsrat, jetzt ebenfalls Teilhaber der Aarau AG.
Andrea Sprecher lässt Linda Sulzer sprechen: «Kigali Group hat sich grosszügigerweise bereit erklärt, 51 Prozent der Aktien zu kaufen, und zwar zum doppelten Preis.»
«Bitte ziehen Sie Ihre Sonnenbrillen an, hier spricht eine Blenderin», sagt ein Votant.
«Heute Abend müssen wir über Sein oder Nichtsein entscheiden», sagt Hofmann.
«Weitere Mord-, äh Wortmeldungen?», fragt Andrea Sprecher. Der Versprecher ist ungewollt, doch passend.
«Ja», schreit Baschi Dürr: «Was ist mit meinem Antrag, Frau Fetz auszuschliessen?» Und dann unterbreitet er noch einen Antrag: Die gerettete Aarau AG soll ihren Sitz in einer Weltstadt haben: «Paris, London oder Basel.»
Der Herr mit der Karomuster-Jacke meldet sich: «Das ist Kolonialismus mit umgekehrten Vorzeichen, ich will eine Rückkehr zum guten alten Staat. Versenken wir die Aarau AG und gehen zurück zur Gemeindeversammlung in Küttigen.»
Dann soll zur Wahl geschritten werden. Die Uhr tickt, der Kommunist hat die Nase vorn. Fetz und Ballmer kommen in den zweiten Wahlgang. Und siehe da: Die Eichenberger-Stimmen gehen zu Fetz.
«Hurra, Basel», schreit Baschi Dürr. Er hat zwar Eichenberger die Stange gehalten. Doch jetzt obsiegt der Lokalpatriot.
Das Theaterstück, eigentlich eine Politsatire, ist trotz streckenweiser Längen spannend und dank dramatischer Spontaneinlagen auch unterhaltsam.
Proberaum Zukunft spinnt Visionen, wie wir in Zukunft leben wollen. Eine nächste Vorstellung gibt es am Freitag, 26. November, 19.30 Uhr im Grossratssaal Aarau. www.proberaum-zukunft.ch
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