Sonntagsausflug: Gorgier NEAn diesem Ort ist immer 2023
Dieses Dorf ist Zeitgeist pur: Gorgier am Neuenburgersee trägt die Postleitzahl 2023. Wobei – genau genommen gibt es den Ort gar nicht. Ein Besuch und ein Erklärungsversuch.

Etwas ist ab heute anders als bisher. Den meisten Dorfbewohnern wird es wohl noch nicht mal aufgefallen sein. Der älteren Dame, die am See ihren Pudel ausführt, jedoch schon. Und sie ist überzeugt, dass es «ein gutes Omen für die Zukunft» ihres Dorfes sei. Dann räumt sie lächelnd ein: «Aber ich bin auch ein bisschen abergläubisch.»
Worum gehts? Der heutige 1. Januar ist der erste von 365 Tagen, an denen die Postleitzahl des Dorfes mit dem Datum übereinstimmt: Willkommen in 2023 Gorgier NE!
Wobei: Genau genommen gibt es die Gemeinde am Ufer des Neuenburgersees – rund 2000 Einwohner, knapp 14 Quadratkilometer – gar nicht. Jedenfalls nicht mehr. An der Strasse steht zwar immer noch das Ortsschild, und auf der Fassade des Bahnhofs verkünden weisse Buchstaben auf blauem Grund, dass der Zug in «Gorgier-St-Aubin» hält. Doch vor fünf Jahren wurden die beiden Dörfer, zusammen mit vier weiteren, zur Commune de La Grande Béroche fusioniert.
Einer der jüngsten Orte der Schweiz hat – passenderweise – auch einen der jüngsten Gemeindepräsidenten des Landes: Maxime Rognon (26), Jurist, ist seit einem halben Jahr im Amt – und hat ehrgeizige Pläne für seine 9000-Seelen-Neo-Gemeinde: «Als wichtigstes Ziel habe ich mir vorgenommen, sie touristisch besser zu erschliessen», erzählt er.

Dabei erhält er rege Unterstützung, etwa von Monique Chevalley, die sich mit viel Herzblut dafür einsetzt, dass ihre Heimat in der übrigen Schweiz und im nahen Ausland wahrgenommen und wertgeschätzt wird. «Ich verstehe mich als Landschafts- und Kulturvermittlerin», sagt die ehemalige Journalistin, die vor 61 Jahren in Gorgier geboren wurde und heute als Pendlerin zwischen Basel und La Grande Béroche eine Brücke über den Röstigraben schlägt.
Und was ist es, ihrer Meinung nach, das diese Gegend zu einem sehenswerten Ausflugsziel macht? «Die grossartige Natur und die vielen historischen Bauten!» Und so wandert Monique als Fremdenführerin durch die Weinberge der «Domaine des Coccinelles», wo seit 30 Jahren biologischer Rebensaft kultiviert und selbstredend auch grosszügig degustiert wird.
Elf Millionen für ein Schloss
Auf Moniques «Tour autour de La Grande Béroche» darf auf keinen Fall das «Lavoir de Gorgier» fehlen, ein Waschhaus aus dem Jahr 1668, in welchem die Frauen aus dem Dorf einst ihre Wäsche in einem Bach schwenkten und mit Asche einrieben, die ihnen als Seife diente.

Obwohl sich dieses Waschhaus auf halbem Weg zum Hügel befindet, auf dem das Schloss Gorgier thront, darf bezweifelt werden, dass die Haushälterinnen im Dienste von Neuenburger Grafen, preussischen Fürsten und burgundischen Herzogen sich zu den Waschfrauen aus dem Dorf gesellten. Bis heute gehört die historische Immobilie, die im Laufe von sieben Jahrhunderten immer wieder umgebaut worden ist, zu den schönsten und besterhaltenen Schlössern des Landes.
Vor elf Jahren ist es für mutmassliche elf Millionen Franken von privat an privat veräussert und aufwendig renoviert worden. «Für die Öffentlichkeit ist das Schloss leider nicht zugänglich», bedauert Monique. «Immerhin kann man in der nahen Umgebung durch einen wunderschönen Buchenwald spazieren und die Aussicht über den See geniessen.»
Unten am See führt ein kurzer Steg von der Badewiese zum «Pavillon des Bains», der einst ebenfalls zum Schloss Gorgier gehörte. Das schmucke Häuschen auf Pfählen, im 19. Jahrhundert im japanischen Stil erbaut, diente den Herrschaften im Sommer als Garderobe. Heute lockt er kurioserweise mehr Publikum während der Wintermonate an: Hinter dem Pavillon pflegt die Sonne dann jeweils so spektakulär über dem Wasser aufzugehen, dass er zum meistfotografierten Kultobjekt rund um den Neuenburgersee geworden ist.
Plötzlich steht man mit offenem Mund vor einer 160-Meter-Wand
Ganz am anderen Ende des Gemeindegebiets und rund 1000 Höhenmeter über dem Seeufer, wölbt sich ein etwas grösseres beliebtes Fotomotiv am Horizont: der Creux du Van. Unter den Karen – den für das Juragebirge typischen, imposanten Launen der Geologie – ist er zweifellos das schönste. 160 Meter hohe, senkrecht abfallende Felswände formen auf einer Länge von über 1000 Metern ein natürliches Amphitheater, das Wanderer, wenn sie von der Alp Grand’Vy kommen, so unverhofft überrascht, dass sie gar nicht anders können, als mit offenem Mund innezuhalten.

Derzeit liegt der Creux du Van allerdings in einer Art Winterschlaf, weil die schmale Strasse, die durch Felder und Wälder zu ihm hinaufführt, in der kalten Jahreszeit geschlossen ist. Man muss sich von Norden her nähern, vom Val de Travers – und das Glück haben, dass sich dieses Kar ausnahmsweise nicht hinter dichten Nebelwänden verbirgt.
Unten am See zieht derweil ein Unwetter auf. Vom Jura peitschen böige Winde den Schneeregen übers Wasser. Die abergläubische Dame hat sich samt Pudel in einem Bistro in Sicherheit gebracht. «Dieses Jahr wird alles besser», sagt sie zu der jungen Frau, die ihr einen Punsch serviert. «2023 bringt uns Glück!»
«J’espère», antwortet die Serviererin, «ich hoffe es!» Ihr osteuropäischer Akzent verrät, dass sie eine der Frauen ist, die vor zehn Monaten mit ihren Kindern vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind und in La Grande Béroche Zuflucht gefunden haben. Nach einer kurzen Pause fügt sie leise hinzu: «Es kann nur noch besser werden.»
Die Reise wurde unterstützt von Tourisme Neuchâtelois; neuchateltourisme.ch
Fehler gefunden?Jetzt melden.