Amputationen am Fliessband
Daniel Mason erzählt in seinem Roman «Der Wintersoldat» von einem überforderten Medizinstudenten im Ersten Weltkrieg.

Der Erste Weltkrieg ruft bestimmte Bilder in uns wach, obwohl er vier Generationen her ist: Schützengräben, Artilleriefeuer, Stacheldraht vor starren Fronten. Der amerikanische Autor Daniel Mason erzählt uns einen ganz anderen Krieg. Denn sein Roman «Der Wintersoldat» spielt im Osten, in jenem Gebiet zwischen Polen und der Ukraine, das später als «Bloodlands» traurige Berühmtheit erlangen sollte. Hier wogt die Front zwischen Russland und Österreich-Ungarn hin und her, die Armeen stossen vor, ziehen sich zurück, fallen auseinander. Es gibt Kavallerieattacken und Wälder, in denen jede Orientierung verloren geht.
Dort in den Karpaten liegt ein Dorf, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist, und dort arbeitet Lucius Krzelewski in einer zum Behelfslazarett umfunktionierten Kirche. Lucius ist Pole, seine Eltern residieren recht hochherrschaftlich in Wien, und er studierte mit Leidenschaft Medizin, als man ihn nach nur sechs Semestern zum Sanitätsoffizier machte und hinter die Front schickte. Es gab bei der K-.u.-k.-Armee zu wenig Ärzte, wie es auch für die Soldaten keine Wintermäntel und keine Winterstiefel gab und überhaupt ein organisatorisches Chaos herrschte.
Lucius hat noch nie am lebenden Patienten gearbeitet, geschweige denn operiert; in Lemnowice führt er bald wie am Fliessband Amputationen durch. Er lernt das von Margarete, einer Ordensschwester, die sich das selbst beigebracht hat. In dem Monat vor Lucius' Eintreffen hat sie 23 Soldaten ein Bein oder einen Arm abgenommen; 14 leben noch – eine gute Quote, meint der verblüffte Sanitätsoffizier.
Patienten, die keine sichtbaren Verletzungen aufweisen: die Traumatisierten. Eine neue Krankheit, die Rätsel aufgibt.
Mason erzählt, wie neue Ladungen von Verwundeten über das Behelfslazarett hereinbrechen, wie die schweren von den leichten Fällen unterschieden, die Sterbenden von den anderen getrennt werden, und was man mit denen macht, die keine sichtbaren Verletzungen haben: den Traumatisierten. Eine neue Krankheit, die Rätsel aufgibt, aber auch den Ehrgeiz des Jungarztes anstachelt.
Besonders der titelgebende «Wintersoldat» hat es ihm angetan, der von einem Bauern unter einer Gruppe Toten hervorgezogen und im Lazarett abgegeben wurde. Joszef Horváth – so heisst er, wie man später erfährt – liegt starr da, unansprechbar, nur manchmal stöhnt er zum Gotterbarmen. Lucius experimentiert mit allerlei Chemikalien (im Lazarett, das nicht einmal einen Röntgenapparat hat, gibt es Morphium und Ähnliches im Überfluss); bei Veronal kommt es zu vielversprechenden Reaktionen: Der «Wintersoldat» findet langsam ins Leben zurück.
Immer wieder wird das Lazarett von Rekrutierungskommandos heimgesucht, die alles, was gehen kann, wieder an die Front schicken, nach dem Motto des Leutnants Horst: «Wer gesund ist, bestimme ich.» In Horváth, der keine äusseren Verletzungen aufweist, meint Horst einen Simulanten und Drückeberger zu erkennen. Statt ihn gehen zu lassen, kämpft Lucius um seinen Patienten – oder vielmehr um seinen eigenen Heilungserfolg.
Nackt angebunden bei 20 Grad minus
Das führt zur Konfrontation und dazu, dass Horst den Traumatisierten bei 20 Grad minus nackt an einen Baum binden lässt; eine Szene von ungeheurer Grausamkeit, beim Lesen kaum zu ertragen. Im Millionenelend des Grossen Krieges ist das nur eine Fussnote. Aber Literatur ist ja wie ein Brennglas, das das Auge auf den Einzelnen lenkt, der für sich selbst und dann eben für uns Leser eine Welt bildet.
Der grausame Akt ist der entscheidende Moment im Leben dreier Menschen. Horváth verliert durch Erfrierungen beide Füsse, Margarete sieht sich in der Pflicht, sich ganz seiner Genesung zu widmen, und Lucius, der das entscheidende Gesetz der Medizin, «primum non nocere», aus Ehrgeiz und Hybris missachtet hat, wird von dem Opfer in Albträumen verfolgt. Auch die heimliche Liebe zwischen Arzt und Krankenschwester fällt schliesslich diesem Ereignis zum Opfer.
«Es war, als hätte jemand ein Feuer ausgetreten und die Glut in alle Himmelsrichtungen verstreut, statt sie wirklich zu löschen.»
Der Krieg selbst kommt in Masons Roman bis auf einen Kosakenangriff, in den Lucius zufällig gerät, nicht vor; die Wunden, die er schlägt, dafür umso mehr. Und das geht über den Waffenstillstand hinaus, nach dem sich die neuen Staaten sofort in neue Kämpfe verstricken. «Es war, als hätte jemand ein Feuer ausgetreten und die Glut in alle Himmelsrichtungen verstreut, statt sie wirklich zu löschen», schreibt der Autor mit einem der treffenden Vergleiche, die seinen geradezu klassischen Stil anschaulich machen.
Überhaupt ist «Der Wintersoldat» kein Kriegsroman im herkömmlichen Sinne. Er spielt ja auch überwiegend im Hinterland, auf chaotischen Transporten, zwischendurch auch in Wien, und wechselt zwischen einem zermürbenden Alltag und dramatischen, lebensbedrohlichen Momenten ab. Er erzählt weniger von Menschen als von Umständen, die sie erdrücken, die ihre Entscheidungsmöglichkeiten radikal einengen und dadurch auch alle moralischen Kategorien deformieren.
Die Natur bringt alles in die Balance
Folgerichtig bleiben die Personen, auch die Hauptfigur Lucius, blass, sie gehen in den Forderungen des Tages auf. Konturen können sie kaum gewinnen; es sind die brutalen, chaotischen Verhältnisse, die diese Konturen ziehen und die Biografien verziehen und verzerren, wenn sie sie nicht einfach kappen.
In der Natur, und ihrem durch nichts zu beeinflussenden Ablauf der Jahreszeiten, dem Wachsen und Vergehen, auch dem Spenden von Schutz und Nahrung, hat Mason ein Gegenüber für das Wüten und Leiden der Armeen gefunden. Es bringt den Roman, dessen ruhiger Prosa man sich gern überlässt, in eine wunderbare Balance. Im letzten Satz heisst es: «Die Welt nahm ihn in Empfang.» Ob der Arzt, nicht weniger traumatisiert als seine Patienten, empfangsbereit ist? Das könnte nur eine Fortsetzung zeigen.

Daniel Mason: Der Wintersoldat. Roman. Aus dem Englischen von Sky Nonhoff und Judith Schwaab. C. H. Beck, München 2019. 430 S., ca. 37 Fr.
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