978 Seiten gegen Merkel
Die SPD verabschiedet in Dortmund ihr Wahlprogramm. Schulz glaubt noch an den Sieg.

Die deutschen Sozialdemokraten trafen sich gestern in Dortmund zu einem Parteitag, um ihr Programm für die Bundestagswahl im September zu verabschieden. Wurde der SPD erst vorgeworfen, ohne Inhalte und nur mit einer Biografie, jener ihres Kandidaten Martin Schulz, anzutreten, lieferte sie jetzt ein Dokument von 978 Seiten ab, ein Totschläger, Wahlprogramm und Änderungsanträge inklusive. Gewissermassen ist der Umfang die Ansage: Wir nehmen zu allem Stellung, die CDU zu nichts. In diesem Sinne sagte Hubertus Heil, der Generalsekretär der SPD, hämisch: «Wir freuen uns auf den Wettstreit um die besseren Konzepte.»
Die SPD möchte der CDU inhaltlich begegnen, diese hält eine solche Auseinandersetzung bisher aber für unnötig. Kanzlerin Angela Merkel macht Aussenpolitik, trifft US-Präsident Trump, den Papst und den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Schulz trifft unbekannte Menschen an irgendwelchen Anlässen, über die niemand berichtet.
Im März, als er am ausserordentlichen Parteitag in Berlin von den Delegierten mit hundert Prozent zum Kanzlerkandidaten gewählt wurde, lag er in Umfragen mit Merkel sozusagen gleichauf. Mittlerweile ist die SPD 15 Prozentpunkte hinter der CDU. Schulz wurde zum Gottkanzler ausgerufen, dann verglühte er. Ob ein solcher Stimmungswechsel persönlich verkraftbar ist und ob es nach einer solchen Entzauberung einen neuen Hype, auf einer nüchterner Grundlage, geben kann, ist fraglich. Die letzten drei Landtagswahlen verlor die SPD, zuletzt im Mai in Nordrhein-Westfalen, wo der gestrige Parteitag stattfand. Rund neunzig Tage vor der Bundestagswahl musste von Dortmund unbedingt ein positives Signal ausgehen.
Schröder solls richten
Vier Optionen waren denkbar. Erstens: Schulz macht eine unerwartete programmatische Ansage. Zweitens: Schulz gelingt mit seiner Rede ein rhetorisches Glanzstück, im besten Fall verknüpft mit einem vernichtenden Angriff auf Merkel. Drittens: Schulz macht weiter wie bisher, ist von Merkel inhaltlich kaum zu unterscheiden, und findet sich in seine Rolle des Kandidaten ohne Aussicht. Viertens: «Schröder solls richten», wie die FAZ schrieb.
In Dortmund sprach Gerhard Schröder, der letzte noch lebende Alt-Kanzler, bekannt als Wahlkampfmaschine, vor Schulz. Er zitierte Zeitungsmeldungen aus dem Jahr 2005, als er gegen Angela Merkel um die Kanzlerschaft kämpfte, erst weit abgeschlagen war, und dann um die 20 Prozentpunkte aufholte. «In wenigen Wochen», wie Schröder betonte. Die Geschichte hatte einen Haken, den auch Schröder nicht unterschlagen konnte: «Es hat knapp nicht gereicht.» Was zur Ermutigung der Genossen gedacht war, war eine Geschichte der Niederlage. Kritik an Merkel und ihrer Regierung unterliess Schröder fast gänzlich, vielleicht auch, um vor Schulz nicht zu sehr aufzutrumpfen. «Nichts ist entschieden», sagte er, «nicht Journalisten und Umfragemenschen entscheiden Wahlen». Sein Ruf «Auf in den Kampf» zum Schluss klang nicht donnernd, man hörte aus ihm eher die Erleichterung, sich wieder setzen zu dürfen.
Es war klar, dass nun alles an Schulz selbst liegen würde. Dieser führte, wie erwartet, Attacken gegen Merkel in einer neuen Qualität. Gleich zu Beginn seiner Rede kritisierte er ihre «asymmetrische Demobilisierung». Schulz zitierte einen Meinungsforscher, der Merkel 2009 angeblich folgenden, zynischen Rat gegeben haben soll: «Sagen Sie nichts. Nehmen Sie zu nichts Stellung. Beziehen Sie keine konkrete Position.» Merkel würde sich seither «systematisch» einer Debatte um die Zukunft des Landes verweigern, sagte Schulz, ja sie fördere es sogar, dass die Leute gar nicht wählen gingen. Was Merkel betreibe, sei ein «Anschlag auf die Demokratie». Weil sich die CDU einer Diskussion über die Rente verweigere, bezichtigte Schulz sie ausserdem der «Arroganz der Macht». Beide Vorwürfe zeugen auch von Hilflosigkeit, denn offensichtlich bringt es die SPD nicht fertig, dass die CDU auf ihre Politik reagieren muss.
Den «Versöhnungsgipfel» von München, bei dem Merkel und der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer Differenzen in der Flüchtlingspolitik beilegen wollten, nannte Schulz einen «Gipfel der Heuchelei». Weil Schulz Mühe hat, sich von Merkel abzugrenzen, spielt er gern über die Bande. Wer Merkel wähle, kriege am Ende Horst Seehofer, sagte Schulz, und verwies auf dessen Nähe zum ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban.
Abgesehen von diesen Vorhaltungen war Schulz' Rede ein weites Feld. In einer Stunde und zwanzig Minuten wollte er vorführen, wofür er alles steht: Eilte von der Digitalisierung zur Türkei, zu Amerika, Europa, den Steuern, der Rente, Börsenspekulationen und so weiter. Dazwischen leuchteten Begriffe wie «Respekt» und «Würde» auf, die zu Schulz' politischem Besteck gehören. Die Aufwertung des Individuums in der Gemeinschaft ist bei ihm ein grosses Thema.
Die Doppelgänger-Problematik
Schulz' Problem bei diesem Wahlkampf wurde aber auch während seiner Rede ständig offenbar. Er schaffte es fast nie, Unterschiede zu Merkel herauszuarbeiten, und das liegt hauptsächlich daran, dass es sie nicht gibt. In der Flüchtlings-, der Europa- und der Aussenpolitik sind es immer nur Nuancen, die die beiden trennen, und selbst in Bereichen wie Sicherheits- und Steuerpolitik zeigen sich keine fundamentalen Unterschiede. Ein echter Wahlkampf ist aber nur möglich, wenn der Herausforderer als Alternative oder aber mit einer berauschenden Persönlichkeit antritt. Beides scheint bei Schulz nicht der Fall zu sein.
Der letzte Satz seiner Rede war: «Für diese Idee will ich Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.» Zugegebenermassen hatte man bis dahin schon vergessen, um welche Idee es sich handelte. Einige Absätze weiter oben im Redemanuskript wurde man fündig: «die Erneuerung Europas». Aber auch hier zeigte sich das skizzierte Problem: Schulz tritt gegen Merkel an und nicht gegen eine Feindin Europas. Die Sozialdemokraten wünschen sich den Schulterschluss zwischen dem französischen Präsidenten Macron und Schulz, derweil haben sich Merkel und Macron längst verbündet.
Im Wulst an Meinungen und Konzepten, die Schulz darbot, versoffen die Ideen, die die SPD von der CDU tatsächlich unterscheiden und mit denen sich allenfalls Wahlkampf machen liesse. So fordert die Partei etwa eine kostenlose Ausbildung von der Kita bis zum Studienabschluss oder für Lehrlinge bis zur Meisterprüfung. Eine «Ehe für alle», sprich auch für gleichgeschlechtliche Paare, macht sie zur Bedingung einer Koalition. Auch in der Bekämpfung des Rechtspopulismus versuchte sich Schulz zu profilieren. Die AfD bezeichnete er als «NPD light» und sagte: «Diese Partei gehört nicht zu Deutschland.» Das Ziel müsse sein, «dass diese Leute nicht dem deutschen Bundestag angehören».
Was bleibt von der Rede? Einen grossen Moment, eine grosse Ansage gab es nicht. Schulz scheint aber, so viel konnte er glaubhaft vorführen, nicht gebrochen. Er hat die Hoffnung auf einen Sieg im September noch nicht verloren. Als das Regierungsprogramm von den Delegierten einstimmig verabschiedet wurde, sagte Schulz: «Wir haben dieses Programm, die anderen haben kein Programm.» Daraus folgerte er, wer kein Programm habe, habe auch nichts zu sagen. Ob die Welt so einfach ist, wird sich noch weisen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch