22.65 Franken IV-Rente pro Monat22.65 Franken IV-Rente pro Monat
Fatmir Mustafa verunfallte 2007 bei Gerüstarbeiten am Letzigrund-Stadion schwer, ein Kollege starb. Die körperlichen und psychischen Folgen des Unglücks haben ihn an den Rand des Suizids getrieben. Nun hat die Suva die Rente verfügt – auf der Basis eines Jahreslohns von 660 Franken. Fatmir Mustafa verunfallte 2007 bei Gerüstarbeiten am Letzigrund-Stadion schwer – ein Kollege starb. Das Unglück hat sein Leben zerstört. Trotzdem sprach ihm die Suva nur eine Mini-Rente zu.
Von René Staubli Zürich – Für Fatmir Mustafa war die Verfügung der Suva eine Hiobsbotschaft. «Der versicherte Jahresverdienst beträgt 660 Franken», teilte ihm die Unfallversicherung am 11. Oktober in Amtsdeutsch mit. Daraus ergebe sich unter Berücksichtigung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit eine monatliche Invalidenrente von 22.65 Franken. Zudem erhalte er 10 680 Franken «Integritätsentschädigung». Diese wird ausgerichtet, wenn ein Verunfallter «in seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit erheblich oder dauernd beeinträchtigt ist». Auf Mustafa trifft das seit dem 15. Mai 2007 zu. An jenem Morgen sollte er mit einem Vorarbeiter im Letzigrund ein Gerüst abbauen, das für die Deckenverkleidung des neuen Stadions benötigt worden war. Es war Mustafas dritter Arbeitstag. Niemand hatte ihn instruiert und auf mögliche Gefahren aufmerksam gemacht. Vieles deutet darauf hin, dass er mit dem Hammer versehentlich einen falschen Keil aus einer Strebe herausschlug, worauf sich eine Plattform löste und beide Männer aus 13 Meter Höhe abstürzten. Während der Vorgesetzte noch auf der Unfallstelle starb, wurde Mustafa mit schweren Verletzungen ins Universitätsspital eingeliefert. Er hatte sich das Schulterblatt, mehrere Rippen, den Unterkiefer und das linke Handgelenk gebrochen sowie das Lungenfell verletzt, was mehrere Operationen nach sich zog. Später fand man auch noch einen Kreuzbandriss am Knie. Ausserdem besteht der Verdacht auf eine Hirnverletzung. «Entsorgt wie ein Abfallsack» Vom Unfall und dem, was danach geschah, hat sich Mustafa bis heute nicht erholt. Der 36-Jährige macht einen verstörten, gehetzten Eindruck und vermag nur bruchstückhaft zu beschreiben, was ihm in den letzten viereinhalb Jahren widerfahren ist. «Er leidet unter chronischen Schmerzen», sagt der behandelnde Arzt aus Rüti ZH. Aufgrund der erlittenen Verletzungen sei Mustafas ganzes Körpergefüge instabil; eine weitere Operation müsse erwogen werden. Seit dem Unfalltrauma befinde er sich «in einer anhaltenden Krisensituation mit bedrohlichen Ängsten». Es bestehe Suizidgefahr. Rechtsanwalt Kurt Meier ist empört über den unmenschlichen Umgang der Suva mit seinem Klienten. Niemand übernehme für den Unfall und seine Folgen die Verantwortung: «Es darf nicht sein, dass ein unerfahrener Asylbewerber für gefährliche Arbeiten am Letzigrund-Stadion missbraucht und nach seinem Unfall mit schwersten Verletzungen entsorgt wird wie ein Abfallsack.» Der Mazedonier war 2003 in die Schweiz gekommen; sein Asylgesuch wurde abgewiesen. Anschliessend hielt er sich illegal in Mailand auf, bis ihn die italienischen Behörden nach Skopje zurückschafften. Mitte 2006 kam er mithilfe von Schleppern ein zweites Mal in die Schweiz. Im Asylgesuch gab er an, er werde in seiner Heimat politisch verfolgt und finde deshalb keine Arbeit. Das Begehren wurde erneut abgelehnt, worauf Mustafas damaliger Anwalt rekurrierte. Die Behörden entschieden, Mustafa könne den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abwarten. Im Asylheim in Rüti lernten ihn die Betreuer als «aufgestellten jungen Mann» kennen. Mustafa wollte nicht untätig herumsitzen, sondern Geld verdienen. Er meldete sich auf ein Inserat der Regensdorfer Adler Gerüstbau GmbH, bei der er einen Arbeitsvertrag unterschrieb. Die kleine Adler GmbH sollte als Unterakkordantin der grossen Roth Gerüste AG die Abbrucharbeiten im Letzigrund besorgen. Obwohl die Roth AG in ihrem Leitbild Sicherheit und Qualität als wichtigste Erfolgsfaktoren nennt, stieg Mustafa ohne jede Ausbildung aufs Gerüst. Die Unfalluntersuchung ergab zudem, dass weder er noch der Vorabeiter wie vorgeschrieben mit Leinen und Karabinerhaken gegen einen Absturz gesichert waren. «Ja, er hat keine Erfahrung gehabt, aber wir haben Leute gebraucht und haben ihn genommen», sagte die Co-Geschäftsführerin der Adler GmbH in der polizeilichen Einvernahme. Mustafa hatte das Recht, in der Schweiz zu arbeiten. Allerdings hätte die Adler GmbH für ihn vorab eine Arbeitsbewilligung einholen müssen. Der Geschäftsführer tat das nicht. Er wollte das Papier entgegen der Vorschriften erst besorgen, wenn sich der neue Mitarbeiter in seinem Job bewährte. Doch dieser verunfallte schon am dritten Tag. 74 Tage Untersuchungshaft Nachdem Mustafa im Zürcher Unispital fast eine Woche intensiv behandelt worden war, holte ihn die Polizei in Handschellen aus der Unfallchirurgie und überführte ihn in die Bewachungsstation des Berner Inselspitals. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hatte die Verlegung angeordnet. Sie warf Mustafa vor, am Tod seines Arbeitskollegen schuld zu sein: fahrlässige Tötung. Wann immer in Bern medizinische Behandlungen anstanden, wurde er gefesselt hingebracht. Als es sein Gesundheitszustand erlaubte, kam er ins Zürcher Bezirksgefängnis. Bis zum 31. Juli 2007 verbrachte Mustafa 74 Tage in Untersuchungshaft. Seine wenigen Freunde wussten wochenlang nicht, wo er sich befand. Kurze Zeit später wies ihn sein Arzt wegen Selbstmordgefahr für zehn Tage in die psychiatrische Klinik Schlössli in Oetwil ein. Im Austrittsbericht heisst es, dass den Patienten «Albträume mit Wiedererleben des Unfalls quälten». Er klage über die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens und leide darunter, dass man ihm die Schuld am Tod des Arbeitskollegen gebe.Die Ärzte der Rehaklinik Bellikon, wo Mustafa die nächsten zweieinhalb Monate verbrachte, diagnostizierten eine schwere posttraumatische Belastungsstörung mit Kopfschmerzen, Depressionen, Albträumen, Schlafstörungen und Schwindelanfällen. In dieser Verfassung wartete Mustafa in der Asylunterkunft mehr als ein Jahr auf das Gerichtsurteil, das am 12. Dezember 2008 eröffnet wurde. Das Bezirksgericht sprach ihn der fahrlässigen Tötung schuldig. Er wäre verpflichtet gewesen, bei der Entfernung der Keile «mit der notwendigen Aufmerksamkeit und Vorsicht» vorzugehen, argumentierte der Einzelrichter. Mustafas Anwalt rekurrierte. Psychologische Betreuung Ein paar Tage später verfügte das Bundesverwaltungsgericht die Wegweisung Mustafas aus der Schweiz. Sein Anwalt erreichte eine Fristerstreckung aus medizinischen Gründen, denn der Mazedonier musste nach dem Schuldspruch erneut ins Schlössli eingeliefert werden. Eine Suva-Vertrauensärztin befürchtete «die Entwicklung einer andauernden Persönlichkeitsänderung mit Symptomen wie misstrauische Haltung, sozialer Rückzug, Entfremdung, Resignation».Am 13. April 2010 hob das Zürcher Obergericht das Urteil des Bezirksgerichts auf. Der Richter befand, die Verantwortlichen der Adler GmbH hätten den unerfahrenen Hilfsarbeiter besser instruieren müssen. Die Prozessentschädigung von 8500 Franken ging für Arztkosten drauf. Mustafa lebte von den Taggeldern der Suva. Vor einem Monat hat diese nun die IV-Rente verfügt. Sie stellt sich auf den Standpunkt, Mustafa habe ohne Bewilligung gearbeitet und wegen des laufenden Asylverfahrens jederzeit mit der Wegweisung aus der Schweiz rechnen müssen. Grundlage für die IV-Rente sei deshalb nicht – wie sonst üblich – der hochgerechnete Jahreslohn gemäss Arbeitsvertrag, sondern nur der Verdienst aus den effektiv geleisteten drei Tagen. Die Suva ist ferner der Meinung, Mustafa sei für einfache Tätigkeiten zu 50 Prozent arbeitsfähig. Unter dem Strich ergebe sich so eine monatliche Invalidenrente von 22.65 Franken. Anwalt Meier hat gegen diese Verfügung rekurriert. Ebenso gegen den Entscheid der Migrationsbehörde von letzter Woche, die Mustafa aufgefordert hat, bis am 15. Dezember auszureisen. Dazu hat Meier beim Kanton ein Härtefallgesuch aus medizinischen Gründen eingereicht. Der behandelnde Arzt sagt: «Nach allem, was Fatmir Mustafa erlebt hat, trägt er eine riesige Not mit sich herum und wird allein nicht damit fertig – er benötigt dringend medizinische und psychologische Betreuung.» Was die juristische Aufarbeitung des Unfalls anbelangt, ist die Roth Gerüste AG unbehelligt geblieben. Deren Geschäftsleitung betont, man habe vom Subunternehmen Adler GmbH die Einhaltung der strengen Sicherheitsvorschriften verlangt. Auf der Baustelle habe es regelmässig Kontrollen gegeben; der Unfall sei folglich «nicht systembedingt». Die Firma schreibt: «Individuelle Verfehlungen können leider nie ganz ausgeschlossen werden und sind für alle beteiligten Personen und Unternehmen umso tragischer.» Auf die Frage, ob man Mustafa jemals kontaktiert habe, heisst es: «Uns wurde der Kontakt mit Hinweis auf das Verfahren verwehrt.» Die Staatsanwaltschaft hatte nebst Mustafa auch den Geschäftsführer der mittlerweile konkursiten Adler Gerüstbau GmbH auf fahrlässige Tötung eingeklagt. Er wurde am 19. Januar 2010 freigesprochen. Nicht er sei für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften verantwortlich gewesen, befand das Gericht, sondern der getötete Vorarbeiter. «Nach allem, was Fatmir Mustafa erlebt hat, trägt er eine riesige Not mit sich herum und wird allein nicht damit fertig.» Behandelnder Arzt von Fatmir Mustafa Der 36-jährige Fatmir Mustafa vor der Asylunterkunft in Rüti. Foto: Dominique Meienberg
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