Pop-Briefing«1992» – eine wilde Mischung mit dem Geist von damals
Die deutsche Artpop-Band Saâda Bonaire entdeckt ein verloren geglaubtes Album – es klingt ungemein faszinierend. Ausserdem: Poesie von Rapper Luuk und die Sex Pistols als Serie.

Das muss man hören
Arcade Fire – «WE»
Kanadas Indie-Aushängeschild hat sich fünf Jahre Zeit gelassen seit dem letzten Album. «We» präsentiert sich nun als zehn Stücke starkes Werk mit vier Mini-Songzyklen: «Age of Anxiety», «End of The Empire», «The Lightning» und «Unconditional». Zu hören gibt es den etablierten Arcade-Fire-Sound: Vorwärts-orientierten Dance-Pop, auf «Unconditional II (Race and Religion)» gibt Peter Gabriel ein Gastspiel.
Kendrick Lamar – «The Heart Part 5»
Im Video zu «The Heart Part 5» mutiert der Rapper dank Deepfake-Technologie zu Ex-Footballer OJ Simpson, Rapper Kanye West, in die Schauspieler Jussie Smollett und Will Smith, den verstorbenen Basketballspieler Kobe Bryant und den 2019 erschossenen Rapper Nipsey Hussle – eine eindrückliche Performance. Wie das ganze Album «Mr. Morale & The Big Steppers» klingt, hat Jean-Martin Büttner an dieser Stelle aufgeschrieben.
Moderat – «More D4ta»
Modeselektor und Sascha Ring alias Apparat spannen ein viertes Mal zusammen, die Vier gibts diesmal nur stilisiert im Albumtitel. Im 20. Jahr des Bestehens gibt es nach den starken Vorab-Singles zwar wenig zu hören, was exorbitant aufregend wäre, doch über Albumlänge entwickelt «More D4ta» einen angenehmen Flow, sodass man gern weiterlaufen lässt.
Belle & Sebastian – «A Bit of Previous»
Auf ihrem elften Studioalbum erweitern die schottischen Belle & Sebastian noch einmal ihr Soundspektrum. Wenn auch der «Twee Pop», der sie einst bekannt machte (und vice versa) hier und da durchscheint, so finden sich hier auch helle, flotte Popmomente, die fast an Stars oder Arcade Fire erinnern («Reclaim the Night», «Prophets on Hold») und sogar Rock, versetzt mit Bluesharmonika auf «Unnecessary Drama». «Deathbed of my Dreams» könnte gar als Countrysong durchgehen.
Kelly Lee Owens – «LP.8»
Das dritte Album der walisischen Electronica-Produzentin Kelly Lee Owens kann als Gegenentwurf zu ihrem grossartigen «Inner Song» von 2020 interpretiert werden. Wo dort ausgefeilte Melodien, Hit-Potenzial und Tanzbarkeit vorherrschten, regiert nun Introvertiertheit und Verschrobenes. Reduzierte, repetitiv-stumpfe Beats und bedrohlich wummernde Bässe machen «LP.8» unbedingt hörenswert, aber auf jeden Fall auch zu uneasy Listening.
Saâda Bonaire – «1992»
Ich gebe zu: Die Bandgeschichte von Saâda Bonaire war mir neu. Die Bremer Artpop-Band hatte Anfang der Achtzigerjahre schon ihr Debütalbum aufgenommen, wurde dann aber vom Label EMI fallen gelassen. So erschien das selbst betitelte Album erst 2013, nachdem das Bandmitglied Ralph «von» Richthofen alte Bänder hatte restaurieren lassen.
Das Gleiche ist jetzt mit «1992» geschehen: In Ostberlin, so die offizielle Geschichtsschreibung, sei 2020 ein Koffer mit dem verloren geglaubten Material aufgetaucht. Das stammt von Anfang der Neunzigerjahre, zu hören sind Stephanie Lange von der Originalbesetzung und die damals neue Sängerin Andrea Ebert. Der Sound trägt unverkennbar die Merkmale des jungen Jahrzehnts, in dem so viel möglich schien: Artpop trifft auf Funk, World, Eurodance und House. Eine wilde Mischung, die wie eine Zeitkapsel den Geist von vor 30 Jahren einfängt.
The Smile – «Thin Thing»
Die Supergroup, bestehend aus Thom Yorke und Jonny Greenwood von Radiohead und Sons-of-Kemet-Schlagzeuger Tom Skinner, klingt für mich offen gestanden einfach wie eine Verlängerung von Radiohead selbst. So auch «Thin Thing», eine weitere Single von dem mittlerweile ebenfalls erschienenen Album. Wirklich sehenswert ist aber das Video.
Das Schweizer Fenster
Luuk – «Tohuwabohu»
Zum Albumrelease von Rapper Luuks Album «Tohuwabohu» gibt es einen Kurzfilm mit Pina Scheidegger in der Hauptrolle. Halb Instrumental-Präsentation, halb Spoken-Word-Perfomance, schön eingefangen von Anil Sarikaya.
Das gibt zu reden
Touren sind – in ihrem vergleichsweise kleinen Rahmen – eine Belastung für die Umwelt. Die Musikschaffenden, die um die Welt fliegen, das Gerät, das mit unterwegs ist, die Fans, die zum Veranstaltungsort pilgern, all das läppert sich. Darüber machten sich bereits Radiohead in den Nullerjahren Gedanken und spielten sogar mit dem Gedanken, gar nicht mehr live aufzutreten.
Ganz so weit gehen Coldplay nicht, immerhin lässt sich mit Auftritten immer noch gutes Geld verdienen. Aber zur aktuellen Welttournee haben sie eine App veröffentlicht, auf der man auch den eigenen Klima-Fussabdruck berechnen kann. Die App, die darüber hinaus auch exklusive Inhalte bietet, soll ihre Anhänger dazu animieren, über eine nachhaltige Anreise nachzudenken. Als Anreiz gibt es 10 Prozent Rabatt auf die Eintrittskarten.
Das blüht
Ende Mai (Startdatum für die Schweiz ist noch nicht bekannt) kommt eine Miniserie über die Sex Pistols auf den Streamingdiensten Hulu und Disney+. «Pistols» zeichnet den Weg der legendären Punk-Urväter zum Ruhm nach und beleuchtet auch das Umfeld des damaligen Szeneladens «Sex/Seditionaries» von Vivienne Westwood. Thomas Brodie-Sangster (der kleine Bub aus «Love Actually») spielt den Pistols-Manager Malcolm McLaren, Maisie Williams die vor kurzem verstorbene Pamela «Jordan» Rooke und Talulah Riley die Modedesignerin Westwood. Für die Schweiz gibt es leider noch kein Startdatum.
Die Wochen-Tonspur
Diese Playlist bietet Ihnen den Schnelldurchlauf mit allem Hörenswerten. Neben dem, was oben ausführlicher besprochen wurde in dieser Woche, auch eine Version von The Clashs «Rock The Casbah» mit Ranking Roger sowie eine äusserst poppige Interpretation der Internationalen.
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