Natascha (19) und Jairo (22) sind auf dem Weg in die Abtreibungsklinik, als sie eine wüste Szene im Zug beobachten. Sie verändert ihr ganzes Leben.
«Sie wollen nicht abtreiben, oder?»: Sagte der Arzt dem Paar beim Termin in der Klinik. Symbolbild: Getty Images
Jairo blickt zu seinem Sohn: «Er sieht genauso aus wie ich, als ich klein war.» Er lobt seinen Entdeckerdrang, betont, dass der kleine Quinn schon durchschläft, seit er zwei Monate alt ist und gut zunimmt. Ganz ein Zufriedener sei er. Er weine nur, wenn er Hunger habe. Ein Anfängerbaby halt.
Fast wäre Quinn nicht da, würde nicht die Ärmchen nach seinem Vater ausstrecken. Natascha und Jairo sind 17 und 20 Jahre alt, als sie die Schwangerschaft in der elften Woche bemerken. Sie haben nicht aufgepasst. Der Moment ist ungünstig. Natascha hat gerade als Kellnerin einen neuen Job angefangen. Jairo ist auf Jobsuche. Was wird nur die Mutter sagen, die Grossmutter? Nein, ein Kind, das passt im Augenblick wirklich nicht in ihr Leben. Das Paar beschliesst abzutreiben.
Haben sich im letzten Moment für die Schwangerschaft entschieden: Natascha und Jairo. Foto: Tamedia
Natascha und Jairo sitzen im Zug nach St. Gallen auf dem Weg in die Klinik. Da ist auch noch eine andere Familie mit Zwillingsbuben. Etwa fünf Jahre alt. Der Vater und die Mutter streiten. Zuerst leise, dann immer lauter. Offenbar haben die Kinder zu Hause etwas kaputt gemacht. Dann schreit der Vater diesen Satz: «Hätten wir sie doch nur abgetrieben!» Die Mutter sagt nichts mehr. Die Kinder weinen. Die Passagiere tun so, als hätten sie nichts gehört.
Natascha und Jairo sagen kein Wort, starren aus dem Fenster. Alles dreht sich in Jairos Kopf. Plötzlich sträubt sich alles in ihm, das zu tun, was sich der Mann gerade gewünscht hat. Er will die Abtreibung nicht mehr. Doch er traut sich nicht, den Gedanken auszusprechen. «Ich halte zu dir, egal, wozu du dich entscheidest», hat Jairo zu Natascha gesagt. Hand in Hand läuft das Paar ins Spital. Die letzte Untersuchung vor der Abtreibung.
Teenager-Mütter
In der Schweiz gab es im Jahr 2015 bei insgesamt 42'139 Geburten 375 Frauen, die im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ein Kind bekamen. Bei zwei Geburten lag das Alter der Mütter zwischen 10 und 14 Jahren. Im europäischen Durchschnitt sind Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes 29 Jahre alt. In der Schweiz waren die Frauen am häufigsten (bei 37,4 Prozent der Geburten) zwischen 30 und 34 Jahre alt.
Natascha liegt auf der Liege, kühles Gel auf dem Bauch, der Arzt fährt mit dem Ultraschallgerät darüber. Sie sieht auf dem Bildschirm das Herz des Fötus pochen. Beide weinen. Beide lachen. «Sie wollen doch nicht abtreiben, oder?», fragt der Arzt. Natascha und Jairo schauen sich an. «Nein, sicher nicht.»
Nataschas Bauch wächst. Jairo hat Angst, das Kind könnte krank sein. Er schaut, dass seine Freundin gut isst, Vitamine sind jetzt wichtig. Jairo kauft viel Gemüse. Nur das Beste für seinen Sohn. Er will ihm ein besserer Vater sein als sein eigener, der ihn früh verlassen hat. Die künftigen Grosseltern kaufen ein Bettchen und einen Kinderwagen. Bekannte schenken Babykleider. Jairo, der jetzt als Sanitär arbeitet, teilt das Einkommen gewissenhaft ein und führt Buch über die Ausgaben. Am Wochenende laufen Natascha und Jairo in Rapperswil am See entlang und überlegen sich einen Namen. Quinn. Ja, das passt.
«So glücklich und stolz war ich nicht einmal, als ich einen Sechser im Zeugnis hatte.»Jairo
Am 24. Dezember feiern Nataschas und Jairos Familien gemeinsam Weihnachten. Es ist das schönste Fest, das Jairo je hatte. Am nächsten Tag kommt Quinn zur Welt. «So glücklich und stolz war ich nicht einmal, als ich einen Sechser im Zeugnis hatte», sagt Jairo. Mit dem Säugling im Arm kehrt das Paar nach Hause zurück und wundert sich, dass das Baby nicht dauernd schreit, so wie man das vom Sagen her kennt. Natascha und Jairo ziehen Quinn herzige Strampler an und fahren ihn spazieren. Mittlerweile ist der Kleine sechs Monate alt. «Hätten wir gewusst, wie leicht es uns fallen würde, ein Kind zu haben – wir hätten nie an eine Abtreibung gedacht.» Man nimmt es dem jungen Paar ab.
Abtreibung als Tabuthema
10'015 Frauen entschieden sich 2017 in der Schweiz für eine Abtreibung. 500 Schwangerschaftsabbrüche gab es nach der 12. Woche, 103 nach der 17. Woche und 41 nach der 21. Woche. Bis zur 12. Schwangerschaftswoche liegt der Entscheid für eine Abtreibung in der Schweiz bei der Frau. Ab der 13. Woche muss ein Arzt eine medizinische oder sozial-medizinische Notsituation feststellen, um die Abtreibung zu erlauben. Wenn Frauen spät abtreiben lassen, gilt die «schwere seelische Notlage der Frau» als häufigster Indikator.
Warum entscheiden sich Frauen für eine Abtreibung? Und wie geht es ihnen nach dieser Entscheidung? Auf einen Aufruf von 20 Minuten meldeten sich über 250 Frauen. Sie haben abgetrieben, weil sie sich zu jung für ein Kind fühlten, den falschen Partner hatten, ihre Mutter sie dazu drängte, weil sie vergewaltigt wurden oder ihr Kind eine Behinderung hatte. Manche der Frauen bereuen die Abtreibung, andere nicht.
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